«Forensic Nursing ist eine Pflegewissenschaft, die Brücken baut»
Pflegefachpersonen und Hebammen spielen eine wichtige Rolle in der Erkennung und Behandlung von Fällen häuslicher und sexualisierter Gewalt. Valeria Kägi, Forensic Nurse und Präsidentin des Verbands Swiss Association Forensic Nursing, erklärt, wie Pflegefachpersonen dazu beitragen können, Fälle frühzeitig zu erkennen und zu betreuen.
Frau Kägi, was ist Forensic Nursing?
Forensic Nursing ist eine Pflegewissenschaft, die Brücken baut zwischen dem Gesundheits- und dem Rechtssystem. Forensic Nurses sind spezialisiert auf die Erkennung, Untersuchung und Betreuung von Betroffenen von interpersoneller Gewalt. Sie kennen sich mit rechtlichen Aspekten aus und wissen, wie sie bei Verdacht auf Gewaltsituationen reagieren und mit wem sie kommunizieren müssen. Oft ist es schwierig, herauszufinden, ob tatsächlich ein Gewaltgeschehen vorliegt.
Inwiefern?
Pflegefachpersonen müssen ihre Beobachtungen immer mit Fakten belegen. Das ist relativ einfach, wenn es sich beispielsweise um eine Entzündung handelt: Der Patient hat Fieber, erhöhte Entzündungswerte, vielleicht eine gerötete Wunde. Bei Gewaltfällen wird es schwieriger: Wie benenne ich ein «komisches Bauchgefühl»? In unserem CAS-Studiengang Forensic Nursing lernen die Studierenden, Beobachtungen, die auf Gewalt hindeuten, objektiv und unabhängig von Bauchgefühl und Interpretation zu deklarieren. Forensic Nurses dokumentieren die Befunde und stellen sicher, dass diese von Anfang an für ein allfälliges Strafverfahren zur Verfügung stehen. Darüber hinaus werden die Fälle in interdisziplinären Rapporten mit Ärztinnen und Ärzten sowie mit dem Rechtsdienst besprochen. Die Betreuung der betroffenen Person umfasst zudem eine Beratung zu den möglichen Hilfsangeboten sowie zu den unterschiedlichen Verfahrenswegen.
Wo arbeiten Forensic Nurses nach ihrem Studium?
Sie arbeiten in verschiedenen Gesundheitseinrichtungen, etwa Spitälern oder Heimen. Es sind aber leider erst wenige Hebammen und Pflegefachpersonen, bei denen diese Zusatzausbildung an ihrem Arbeitsort anerkannt wird. Ein Grund dafür ist, dass es sich in der Schweiz um ein relativ neues Fachgebiet handelt: Unter einer Weiterbildung im Wundmanagement kann sich ein Arbeitgeber viel eher etwas vorstellen. Dazu kommt der chronische Personalmangel: Pflegefachpersonen und Hebammen können forensisch relevante Fälle oft nicht als Case Manager weiterverfolgen, weil ihr intensiver Pflege- und Betreuungsalltag dies nicht zulässt. So geht Fachwissen verloren und es entsteht viel Frustration. Was nützt eine Weiterbildung, wenn das Erlernte nicht angewendet werden kann?
Nationale Konferenz: «Einbezug des Themas häusliche Gewalt und Gewalt an Frauen in der Bildung von Pflegefachpersonen und Hebammen»
Im Rahmen der Massnahmen 18 und 19 des Nationalen Aktionsplans der Schweiz zur Verhütung und Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen findet am Donnerstag, 30. November 2023 die Nationale Konferenz « Einbezug des Themas häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen in der Bildung von Pflegefachpersonen und Hebammen » statt. Es werden Modelle guter Praxis vorgestellt mit anschliessender Podiumsdiskussion. Die Teilnahme ist kostenlos.
Warum ist es wichtig, dass das Thema häusliche und sexualisierte Gewalt in die Ausbildung von Pflegefachpersonen und Hebammen aufgenommen wird?
Pflegefachpersonen und Hebammen sind häufig die ersten Kontaktpersonen für die Betroffenen. Deshalb schulen wir Forensic Nurses in der Befunderhebung und Spurensicherung – denn dies macht auch dann Sinn, wenn die Betroffenen nicht direkt Anzeige erstatten möchten, da die Asservate auch in diesen Fällen gesichert sind. Wenn das Pflegepersonal darauf sensibilisiert ist, Anzeichen und Risikofaktoren häuslicher Gewalt zu erkennen und Fälle frühzeitig zu identifizieren, können ausserdem rechtzeitig Unterstützungsangebote eingeleitet werden.
Aber auch für die Pflegefachpersonen ist es im Umgang mit häuslicher und sexualisierter Gewalt zentral, dass sie mit dem rechtlichen Umfeld vertraut sind. Sie müssen wissen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden müssen, zum Beispiel, unter welchen Voraussetzungen eine Meldung an die Strafverfolgungsbehörden erfolgen kann und in welchen Fällen eine Meldung erfolgen muss.
Eine Studie* kommt zum Schluss, dass die Themen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt nicht flächeneckend in der Ausbildung von Gesundheitsfachkräften behandelt wird. Welche Gründe sehen Sie dafür?
Die Lehrpläne für Pflegefachpersonen und Hebammen sind sehr voll, da ist es schwierig, ein neues Fachgebiet zu integrieren. Zudem sind qualifizierte Lehr- und Fachpersonen rar. Glücklicherweise nehmen wir aber eine zunehmende Anerkennung der Relevanz des Themas im Gesundheitswesen wahr. Auch der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention kommt uns entgegen, weil die Kantone nun Massnahmen entwickeln und auch das BAG das Thema aktiv bearbeitet. Uns ist es ein Anliegen, dass die Perspektive der Gesundheitsfachpersonen frühzeitig in die Entwicklung der Programme und Massnahmen einbezogen wird.
Nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention
Am 22. Juni 2022 hat der Bundesrat den «Nationalen Aktionsplan 2022-2026 zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention)» (NAP-IK) verabschiedet. Dieser beinhaltet 44 Massnahmen in den Bereichen «Information und Sensibilisierung der Bevölkerung», «Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen und ehrenamtlich Tätigen» und «Prävention und Bekämpfung von sexueller Gewalt». Die Massnahmen 18 und 19 des NAP-IK beinhalten die Themen Sensibilisierung und Verstärkung der Aus-, Weiter- und Fortbildung des Gesundheitspersonals zu den Themen häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen, sowie Bekanntmachung und Unterstützung bei der Implementierung von Modellen guter Praxis.
Am 30. November 2023 findet eine vom BAG organisierte Konferenz statt mit dem Titel: «Einbezug des Themas häusliche Gewalt und Gewalt an Frauen in der Bildung von Pflegefachpersonen und Hebammen». Was erhoffen Sie sich von dieser Konferenz?
Ich erhoffe mir, dass der Austausch zwischen Regionen, Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsfachpersonen gefördert wird. Gewalt ist nicht nur ein Thema, das Hebammen und Pflegefachpersonen angeht, sondern kann in allen medizinischen Bereichen Thema sein – überall, wo mit Patientinnen und Patienten gearbeitet wird.
Ich erhoffe mir auch, dass Anlässe wie diese die Anerkennung von Forensic Nursing als wichtige Fachspezialisierung fördern und dass Pflegefachpersonen und Hebammen als fachlich und sozial kompetente Erstkontaktpersonen wahrgenommen werden. Sie sollen in die Erarbeitung von Strategien einbezogen werden. Unser Verband Swiss Association Forensic Nursing wird mit einem Informationsstand an der Fachtagung vertreten sein – wir freuen uns auf den Austausch mit allen Teilnehmenden.
Valeria Kägi ist Pflegefachfrau und Forensic Nurse. Sie ist Co-Studiengangleiterin des CAS Forensic Nursing an der Universität Zürich und Präsidentin des Verbands Swiss Association Forensic Nursing. Forensic Nursing wird an der Nationalen Konferenz «Einbezug des Themas häusliche Gewalt und Gewalt an Frauen in der Bildung von Pflegefachpersonen und Hebammen» vom 30. November 2023 als Modell guter Praxis vorgestellt.
Quellen
*Ecoplan im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, 2021: Bestandesaufnahme zu Aus- und Weiterbildungsangeboten zu Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sowie zu kantonalen Forschungsprojekten.