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«Investitionen in gute Präventionsmassnahmen bremsen das Kostenwachstum.»

10 Jahre Nationale Gesundheitspolitik. Ende 2003 unterzeichneten Bund und Kantone die Vereinbarung zur Nationalen Gesundheitspolitik Schweiz, welche die intergouvernementale Zusammenarbeit in der Gesundheitspolitik mit der Einrichtung des Dialogs auf eine verbindliche Grundlage stellte. Im Vorfeld zur Vereinbarung wurden gesundheitspolitischen Analysen erstellt (s. Box), darunter die «blauen Bände» über die Gesundheitspolitiken in der Schweiz, welche vor 10 Jahren erschienen sind. Diesen Jahrestag nimmt spectra zum Anlass, um zwei ausgewiesene Förderer der nationalen Gesundheitspolitik zu befragen: Michael Jordi, den Zentralsekretär der schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) und Stefan Spycher, den Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit (BAG).

Michael Jordi (GDK).

Stefan Spycher (BAG).

Fünf Fragen an Stefan Spycher und Michael Jordi.

Wie hat sich die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen in den letzten Jahren entwickelt?  Welche Erfolge sind zu verzeichnen, wo bleiben Stolpersteine?

Spycher: Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen hat sich verändert und intensiviert. Die Strategie Gesundheit2020 bildet für beide Seiten den breit akzeptierten Rahmen für die gemeinsamen Projekte und Prioritäten. Die gegenseitige Abstimmung, die grundsätzlich wegen den unterschiedlichen Rollen eine Herausforderung darstellt, ist auf dieser Basis viel einfacher. Gleichzeitig findet der Dialog Nationale Gesundheitspolitik – hier treffen sich der Vorstand der Gesundheitsdirektorenkonferenz und der EDI-Vorsteher – häufiger statt und wird ausführlicher vorbereitet. Zwei Mal pro Jahr werden zusätzlich alle kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren an die Dialog-Sitzung eingeladen.

Jordi: Bund und Kantone sprechen sich in der Tat besser ab als noch vor 10 Jahren. Die Einsicht, dass die Zuständigkeiten eng verwoben sind, haben dazu geführt, dass im Rahmen des Dialogs die Geschäfte frühzeitig besprochen werden – mit dem Ziel, gemeinsam getragene Lösungen zu finden. Es gibt aber gerade in Finanzfragen immer wieder Interessenkonflikte, auch zwischen Bund und Kantonen. Kritisch beurteilen die Kantone zuweilen die grosse Anzahl von Strategien, die vom Bund lanciert wird und bei denen die Mitarbeit der Kantone erwartet wird. Hier muss aus meiner Sicht in Zukunft auf weniger Themen fokussiert, bzw. die Umsetzung nach Prioritäten und Ressourcen gestaffelt werden.  

Sind die Zeiten vorbei, in denen die kurative Medizin als systembeherrschendes Element die Gesundheitspolitik prägte?

Spycher: Die Heilung von Krankheiten steht für die Bevölkerung im Vordergrund. Die Hoffnungen sind gross, dass wir – beispielsweise mit der «Personalisierten Medizin» – noch besser und früher werden diagnostizieren und therapieren können. Von Seiten der Politik wird aber Gesundheitspolitik seit der Strategie Gesundheit2020 über die Kuration hinaus viel breiter gedacht und angelegt. In den kommenden Jahren soll beispielsweise die «umfassende Gesundheitspolitik», also das Einbringen von gesundheitspolitischen Themen in andere Politikbereiche, verstärkt werden.

Jordi: Wenn wir die finanzielle Seite anschauen, nimmt die kurative Medizin weiterhin einen sehr grossen Raum ein und baut diesen sogar noch aus. Daneben gibt es kleine, aber durchaus wichtige Pflänzchen, die in der Gesamtschau von Gesundheit 2020 ihre Aufnahme gefunden haben. «Palliative care» wird in Spitälern, Heimen und in der Spitex immer wichtiger. Mit der NCD-Strategie werden nun die Weichen anders gestellt, um die Prävention in den nächsten Jahren zu stärken. Ob dies gelingen wird, hängt aber nicht zuletzt von der Politik ab, die gerade gegenüber der Prävention im Moment sehr kritisch eingestellt ist. Das zeigt sich am aktuellen Beispiel Tabakproduktegesetz.  

Wie steht es um die systemische Bedeutung der Präventionspolitik in der Schweiz?

Spycher: Prävention und Gesundheitsförderung sind in der Schweiz, wie auch in allen mir bekannten Ländern, zentrale Bausteine der Gesundheitspolitik. Aber sie verändern sich. Noch bis vor kurzem war beispielsweise die Prävention der nicht-übertragbaren Krankheiten dominiert von der Fokussierung auf die zentralen, meist verhaltensbedingten Risikofaktoren. Hier zeichnet sich international und in der Schweiz ein Paradigmenwechsel ab. Der Bundesrat hat im April 2016 eine neue Präventionsstrategie verabschiedet, die stark auf das Endziel setzt, nämlich die Prävention von Krankheiten, und in der Umsetzung den Schwerpunkt auf Lebensabschnitten, Settings sowie der Integration der Prävention in die medizinische Grundversorgung legt.

Jordi: Ein Grundproblem der Prävention ist die Tatsache, dass sich Erfolge erst langfristig einstellen. Oft braucht es Jahrzehnte: beispielsweise, bis aufgrund tieferer Raucherraten die Prävalenzraten für Lungenkrebs sinken. Und wenn Erfolge sichtbar werden, ist manchmal wieder in Vergessenheit geraten, welche Massnahmen dafür verantwortlich sind. So etwa bei den schulzahnärztlichen Reihenuntersuchungen, die zu einer markant besseren Zahngesundheit geführt haben. Nach wie vor bin ich überzeugt: Investitionen in gute Präventionsmassnahmen bremsen das Kostenwachstum. Für die Kantone ­– als die für Prävention zuständige Staatsebene – ist es deshalb wichtig, dass Prävention langfristig angelegt ist. Im Moment sind die entsprechenden Programme wegen den knappen Kantonsfinanzen vielerorts unter Druck. Umso wichtiger sind in diesem Moment die zweckgebundene Quellen wie der Alkoholzehntel oder der KVG-Prämienzuschlag, die zur Mitfinanzierung und damit zur langfristigen Sicherung der Prävention beitragen.  

Werden die Gesundheitsdaten gut genutzt?

Spycher: Die Datensituation und damit die Transparenz des Gesundheitssystems verbessern sich laufend. Dazu tragen verschiedene Datenprojekte bei, aber auch die Intensivierung der Datenanalyse durch das Obsan. Weiter konnten durch den Schweizerischen Nationalfonds neue Nationale Forschungsprogramme in den Bereichen Antibiotikaresistenzen und Versorgungsforschung lanciert werden, deren Ergebnisse uns bald in der Gestaltung unserer Massnahmen unterstützen werden. Die Umsetzung des elektronischen Patientendossiers wird zudem die Nutzung der Krankheitsdaten auf der individuellen Ebene erheblich verbessern.

Jordi: Die GDK ist an vielen Projekten beteiligt, in denen Daten erhoben bzw. ausgewertet werden. Das von Bund und Kantonen gegründete Obsan spielt in den letzten Jahren eine wichtige Rolle in diesem Bereich. Es nimmt auch die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kantone auf, z.B. in kantonsspezifischen Gesundheitsberichten. Im Bereich von e-Health sind wir sicherlich noch nicht soweit, wie wir es uns vor 10 Jahren erhofft haben. Mit der neuen rechtlichen Grundlage des EPDG (Gesetz über das elektronische Patientendossier) sollten aber in naher Zukunft Fortschritte möglich sein. Die GDK setzt sich für bessere Datengrundlagen im Gesundheitswesen ein. Die Nutzung von Gesundheitsdaten befindet sich aber stets im Spannungsfeld mit dem Datenschutz und mit der föderalistischen Struktur unseres Landes. Nur mit einem sinnvollen Ausgleich zwischen diesen Interessen können wir in diesem Bereich Schritte vorwärts machen.  

Liberal und sozialstaatlich: Hat das Konzept des regulierten Wettbewerbs im Gesundheitssystem auch in Zukunft Bestand?

Spycher: Das Konzept des regulierten Wettbewerbs stand am Ursprung des KVG, wurde aber nur teilweise umgesetzt. Die Reformen der vergangenen Jahre zielten mehrheitlich darauf ab, gewisse Konstruktionsmängel zu beheben (beispielsweise beim Risikoausgleich zwischen den Versicherern). Die Rolle von Bund und Kantonen wird aber entlang der üblichen Links-Rechts-Präferenzen nach wie vor intensiv diskutiert. Dieses Thema wird uns noch lange begleiten.

Jordi: Zwei Elemente prägen das Gesundheitssystem: Wir haben stark angebotsgesteuerte Preise und Mengen, also alles andere als ideale Marktverhältnisse. Und wir befinden uns in einen Sozialversicherungssystem, in welchem jeder Bürger und jede Bürgerin solidarisch eingebunden ist. Alle verfassungsrechtlichen Versuche, dem schweizerischen Gesundheitswesen einen eindeutigen Markt- oder Staatsstempel aufzudrücken, sind klar gescheitert. Also werden wir uns darauf konzentrieren müssen, das jetzige Modell zu optimieren. Das bedeutet, dass weder die Solidaritäten abgebaut, noch effizientere und qualitativ bessere Organisationsmodelle der Leistungserbringung gebremst werden sollen.    

Achtermann, Wally und Christel Berset (2006). Gesundheitspolitiken in der Schweiz – Potential für eine nationale Gesundheitspolitik. Band 1 – Analysen und Perspektiven. Nationale Gesundheitspolitik, Bern. Band 2 – 10 Porträts.

Rička, Regula (2004): Nationale Strategie zum Schutz, zur Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz. Nationale Gesundheitspolitik, Bern.

Kontakt

Wally Achtermann, Leiterin Suchtmonitoring, wally.achtermann@bag.admin.ch und Regula Rička, Sektion Gesundheitspolitik, regula.ricka@bag.admin.ch

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