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«Im Bereich perinatale psychische Gesundheit gibt es noch viel Potenzial»

Lena Sutter ist Leitende Pflege- und Hebammenexpertin und Advanced Practice Midwife (APM) am Inselspital Bern und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule. Sie erklärt, wie belastete Familien frühzeitig unterstützt werden können und wie ein Screening, das sie entwickelt hat, Hilfe leisten kann.

Die ersten Lebensjahre sind entscheidend für die Entwicklung eines Menschen und beeinflussen nicht nur das gesundheitliche Wohlbefinden, sondern auch die Psyche und die soziale Entwicklung. Während der Schwangerschaft und nach der Geburt werden Familien eng begleitet durch Fachpersonen, etwa durch die Hebamme. In der Zeit danach bis zum Schuleintritt wird es jedoch schwieriger, belastete Familien zu erkennen und rechtzeitig die nötigen Unterstützungsangebote einzuleiten.

Frau Sutter, warum ist es so wichtig, dass belastete Familien nach der nachgeburtlichen Behandlung nicht aus dem Fokus der Fachpersonen fallen?

Weil es in diesen Familien relativ viele Mütter gibt, die nach der Geburt mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Wenn Symptome lange anhalten und nicht erkannt werden, kann das einen negativen Einfluss auf das Wohlbefinden der gesamten Familie und die Entwicklung des Kindes haben und auch das ganze Familiensystem beeinflussen. Neben dem Leiden der Betroffen kann das hohe Kosten für die ganze Gesellschaft haben. Bei einer frühzeitigen Erkennung kann eine bedarfsgerechte Behandlung und Begleitung in die Wege geleitet werden.

Leider sind psychische Erkrankungen gesellschaftlich häufig immer noch stigmatisiert. Dies kann zur Folge haben, dass Betroffene keine oder zu spät Hilfe aufsuchen, respektive ihre Symptome nicht als solche erkennen. Psychisch belastete Personen haben oft auch keine Ressourcen, um sich nach Angeboten zu erkundigen, geschweige denn Termine zu vereinbaren. Dieser Orientierungslosigkeit und dem fehlenden Wissen über Unterstützungsmöglichkeiten wollen wir entgegenwirken, indem wir eine Kooperation mit der Universitäre Psychiatrische Dienste Bern haben und eine Psychiaterin, die in der Frauenklinik Sprechstunden macht und eng mit der APM zusammenarbeitet. So können wir beispielsweise rasch und niederschwellig einen Termin bei einer psychiatrischen Fachperson vermitteln. Weiter koordinieren wir die bestehenden Entlastungsangebote, um sie gezielt den betroffenen Familien zugänglich zu machen. Das ist ein wichtiges Ziel unserer Arbeit.

Belastete Familien

Nicht alle Eltern können ihren Kindern in gleichem Mass ein förderliches Umfeld bieten. Manchmal gibt es schwierige Lebenslagen, es fehlt das nötige Wissen oder die finanziellen Möglichkeiten sind eingeschränkt. Manche Eltern leiden selbst an einer Krankheit, die sie beeinträchtigt. Für belastete Familien sind familienergänzende Angebote der frühen Kindheit daher von grosser Bedeutung.

Wie werden Familien in einer belastenden Lebenssituation längerfristig begleitet?

Wir achten darauf, dass wir das nötige Helfernetzwerk früh ins Boot holen, um eine nahtlose Begleitung zu garantieren. Die Mütter- und Väterberatung ist beispielsweise ein Angebot der Kantone für Familien mit Kindern vor dem Schuleintritt. Auch die Zusammenarbeit mit der Familienbegleitung oder der Psychiatrischen Spitex sind wichtige Angebote des ausgebauten ambulanten Helfernetzes. Weiter bieten niederschwellige und kostengünstige Angebote wie Eltern-, oder Baby-Massage-Kurse eine gute Möglichkeit, um Kenntnisse aufzubauen und in Kontakt mit anderen Familien zu kommen.

15-20 Prozent der Mütter leiden zwischen dem Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des ersten Jahres nach der Geburt an sogenannten perinatalen psychischen Erkrankungen. Was können Fachpersonen leisten, um Betroffene zu unterstützen?

Guidelines empfehlen, ein systematisches Screening durchzuführen statt nur zu fragen, wie es den Frauen geht. Aber auch die Entstigmatisierung ist sehr wichtig. Je früher die Frauen professionelle Unterstützung erhalten, desto besser kann man ihnen helfen.
Werden belastete Familien schon während einer Schwangerschaft erkannt, kann frühzeitig geplant werden, um die Familie in kritischen Situationen zu unterstützen. Zum Beispiel mit dem Aufbau eines Helfernetzes, dem Zusammenstellen einer Art Notfallplan, der passenden Angebote auflistet, aber auch persönliche Kontakte und Coping-Strategien bereitstellt.

Das systematische Screening zur Früherkennung des Inselspitals hat zum Ziel, perinatale psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen. Wie funktioniert das?

Beim Screening werden den Frauen zwei einfache Fragen (Whooley Questions) gestellt: Ob sie sich im letzten Monat oft niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos gefühlt haben, und ob sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen gehabt haben, die sie sonst gerne tun.

Wenn eine der beiden Fragen mit Ja beantwortet wird, erhalten die Frauen den sogenannten «EPDS-Fragebogen» (Edinburgh Postnatal Depression Scale), der systematisch die Stimmung der Frau in den letzten sieben Tagen ergründet. Je nach Resultat des Fragebogens wird dann ein Gespräch angeboten, entweder bei der APM oder der Psychiaterin. Zusätzlich geben wir einen Informations-Flyer ab. Dieser Screening- Ablauf wurde im 2021 eingeführt und im Rahmen der Masterarbeit einer Hebammenstudentin nach einjähriger Pilotphase evaluiert.

Was sind die bisherigen Erfahrungen mit dem Screening?

Die Befragten reagieren grösstenteils positiv auf das Screening. Auch die Sensibilisierung der Gesundheitsfachpersonen ist gestiegen. Die Mitarbeitenden achten neben dem körperlichen auch auf das psychische Befinden der Patientinnen.

Werden solche Screenings auch in anderen Spitälern angewendet?

Zurzeit gibt es zwei Kliniken, die planen, unser Screening zu übernehmen. Ausserdem wird an der Berner Fachhochschule das Modul «Perinatale psychische Gesundheit» angeboten – nicht nur für Hebammen im Masterstudiengang, sondern auch für andere Fachpersonen als Fachkurs. Dadurch kann die Sensibilisierung und das Fachwissen weiterer Fachpersonen gefördert werden.

Lena Sutter war Referentin an der vom Bundesamt für Gesundheit unterstützten Tagung "familienzentrierte Vernetzung in der Schweiz" vom 28. August 2023. Weitere Informationen zur Tagung: Tagungsrückblick Familienzentrierte Vernetzung in der Schweiz

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Kontakt

Nadia Jaggi
Sektion Gesundheitsförderung und Prävention

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