Ursula Koch: «Prävention bedeutet den Erhalt der Gesundheit und hat in meinen Augen viel mit Lebenslust zu tun.»
Sechs Fragen an Ursula Koch. Die Psychologin und Public-Health-Spezialistin Ursula Koch hat 2009 als Leiterin der Sektion Alkohol & Tabak im Bundesamt für Gesundheit (BAG) angefangen und leitet seit 2011 gemeinsam mit Roy Salveter die Abteilung nationale Präventionsprogramme (NPP) mit den fünf Sektionen Alkohol, Tabak, Ernährung & Bewegung, Drogen und Grundlagen/Forschung. Nun verlässt Ursula Koch das BAG, um bei der Krebsliga eine neue Herausforderung anzunehmen. Im spectra-Interview schildert sie ihre Erfahrungen kurz vor dem Abschied vom BAG.
Sie verlassen das BAG nach sieben Jahren. Was waren Ihre prägendsten Erlebnisse beim Bund?
Anregend war die Mischung aus Politik, Praxis und Wissenschaft, vielfältig die Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Akteuren, stete Herausforderung das föderalistische System und die Komplexität des Gesundheitswesens und spannend die Nähe zur Politik.
Vielen Menschen ist nicht bewusst, in welchem Spannungsfeld sich das BAG befindet. Einerseits muss in einem hochpolitischen Umfeld wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung getragen werden und andererseits gilt es, in einem föderalistischen System und mit einer Vielzahl an unterschiedlichsten Akteuren mit vielfältigsten Bedürfnissen kompromissfähige Lösungen zu finden. Die Akteure kommen aus sehr unterschiedlichen Gebieten: Wirtschaft, Verkehr, Raumplanung, Bildung, NGOs, bis hin zur Polizei, der Wissenschaft, den Leistungserbringern und vielen mehr. Das macht die Arbeit anspruchsvoll, aber sehr spannend und bereichernd. Zugleich ist das BAG ein Ort, wo Gesundheitspolitik stattfindet. Die Vielzahl an gesundheitspolitischen Themen, die Komplexität und die Zusammenhänge der Themen sind inspirierend. Die Gesundheit der Bevölkerung in all ihren Facetten zu denken, bedeutet auch ständige Weiterentwicklung des Gesundheitssystems, etwa im Bereich E-Health, bei neuen Modellen zur Versorgung etc. Dazu einen Beitrag leisten zu können, hat mir grosse Freude bereitet.
Schwierig fand ich es, mit dem leider häufig negativen Image des BAG umzugehen. Insbesondere der Bereich Prävention wird mit Bevormundung gleichgesetzt. Dabei bedeutet Prävention den Erhalt der Gesundheit und dadurch der Lebensqualität, der Produktivität und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und hat in meinen Augen viel mit Lebenslust zu tun. Das rüberzubringen ist uns bisher leider nur bedingt gelungen. Umso wertvoller waren deshalb das beeindruckende Engagement und die hohe Kompetenz vieler Kolleginnen und Kollegen innerhalb von NPP, des BAG und insbesondere des NPP-Leitungsteams. Wir haben viel zusammen gelacht und immer wieder Lösungen und neue Wege gefunden in einem Umfeld, in dem nicht nur Lorbeeren zu holen sind.
Was kann das BAG im föderalen System zur Prävention tatsächlich beitragen? Oder anders gefragt: Hat die Prävention einen schweren Stand, auch beim Bund und innerhalb des BAG?
Unser System ist noch immer stark auf die Kuration ausgerichtet. Das ist angesichts der Entwicklung der chronischen Erkrankungen ein Systemfehler, der die falschen Anreize setzt. Das ist eigentlich erstaunlich, denn welcher Betrieb würde bei einem Risiko, das zu hohen Kosten führt, nicht Geld investieren, um dieses Risiko zu verringern? Die Prävention hat trotz dem Fokus der bundesrätlichen Agenda 2020, bei den Akteuren ausserhalb, aber auch innerhalb des Gesundheitswesens noch immer einen schweren Stand. Gerade diesbezüglich kann das BAG aber auch in einem föderalistisches System sehr viel beitragen. Es kann Schwerpunkte in den gesundheitspolitischen Dossiers setzen und einen Orientierungsrahmen stecken bzw. eine Wanderkarte ausbreiten und dadurch die nötige Aufmerksamkeit erzeugen und externe Akteure in ihren Bemühungen stärken. Die nationalen Präventionsprogramme zeigen aber v.a. auch, wie wichtig und wie gewünscht die Unterstützung der Kantone bei der Umsetzung ihrer Aktivitäten ist. Darüber hinaus tragen die Programme zur Generierung und Vermittlung von Wissen, von Informationen, zur Sensibilisierung aber auch zur konkreten Unterstützung von Innovationsprojekten und insbesondere zur Koordination der verschiedenen Aktivitäten bei.
Klar, auch ein föderalistisches System benötigt den Willen zur Kooperation und setzt gegenseitiges Vertrauen und das Verständnis der unterschiedlichen Realitäten voraus, in denen sich die verschiedenen Akteure befinden. Wenn man die Realitäten, aber auch die Kompetenzen und Rollen der Akteure kennt und versteht, kann man anfangen zu überlegen, wer was am besten umsetzen kann und wie man gemeinsam die Prävention stärken kann, dann könnte trotz föderalistischem System einiges erreicht werden.
Zwei ihrer jüngsten Projekte als Co-Leiterin der Abteilung NPP – die Strategie Sucht und die NCD-Strategie – sind kurz davor, in See zu stechen. Was wünschen Sie den Schiffen und ihrer Crew für die Reise?
Beide Strategien sind der Versuch, analog der Agenda 2020 einen Orientierungsrahmen für die Vielzahl unterschiedlicher Akteure zu schaffen. Es sind keine Strategien, die nur der Bund oder die Kantone umsetzen können, sondern sie zeigen die relevanten Handlungsfelder auf, wo auch NGOs, Leistungserbringer oder Institutionen aus anderen zivilgesellschaftlichen Bereichen die Federführung übernehmen können und sollen. Externe Akteure können sich zudem auf diese strategischen Handlungsfelder beziehen und auch politisch die entsprechenden Aktionen fordern. Die Strategie ist eine Art Wegweiser und muss im Rahmen der Umsetzungsplanung nun auf konkrete Aktivitäten heruntergebrochen werden.
Die Schwierigkeiten der Strategien bestanden v.a. darin, einerseits Kontinuität zu gewährleisten, damit das bisher aufgebaute (z.B. in den Kantonen oder bei Gesundheitsförderung Schweiz) integriert und weitergeführt werden kann, und dennoch Lücken anzugehen und sich auf Basis des Bestehenden weiterzuentwickeln, um auch die entsprechende Qualität und Innovation zu gewährleisten. Andererseits musste vor allem die NCD-Strategie aufgrund des abgeschriebenen Präventionsgesetzes den fehlenden gesetzlichen Grundlagen und finanziellen Mitteln Rechnung tragen und zugleich Ansatzpunkte aufzeigen, um in Zukunft Lösungen für diese strukturellen Schwierigkeiten zu finden. Sie musste also eine Balance finden zwischen Kontinuität und Innovation und zwischen aktuell Machbaren und zukünftig Wünschbaren. Ich wünsche den beiden Schiffen und ihrer Crew deshalb Geduld und allem voran Lösungsorientierung und Kreativität, um gemeinsam Wege zu finden, wie die Ziele der NCD-Strategie erreicht werden können, aber auch den Mut, Prioritäten zu setzen und sich auch für neue Ressourcen einzusetzen.
Ihre beruflichen Wurzeln liegen (unter anderem) in der Gesundheitspsychologie. Was können wir von ihr lernen?
Die Gesundheitspsychologie beschäftigt sich mit verhaltensökonomischen Fragen, auch unter «behavioral economics» bekannt. Die Frage also, wieso Menschen oder Organisationen etwas tun oder nicht tun und welche Anreize oder Faktoren es braucht, um Veränderungen zu erzielen. Dies ist weiterhin DIE zentrale Frage, die in vielen Bereichen des Gesundheitssystems gestellt werden muss. Welche Anreize sind nötig, damit die Qualität verbessert wird? Wie kann gesundes Verhalten einfach gemacht werden? Wie können Veränderungsprozesse hin zu neuen Versorgungsmodellen unterstützt werden? Wie gelingt es Menschen, 5 kg abzunehmen? Meines Erachtens vergessen wir oft, bei neuen gesundheitspolitischen Themen diese Faktoren zu berücksichtigen. Es kann nicht einfach ein neues Modell im Alltag von Hausärzten implementiert werden. Es braucht gezielte Unterstützung dazu, sei dies in Form von Coachings, praxisbezogenen Unterlagen oder Austauschgefässen und vor allem die Berücksichtigung der Realitäten wie Wissenslücken, Zeitdruck, Unsicherheit. Genauso wenig nützt bei den meisten Menschen die alleinige Information, sie sollten ihr Gewicht reduzieren oder sich gesund ernähren. Es braucht neben dem Vorsatz, konkrete realistische Ziele, soziale Unterstützung, einen einfach umsetzbaren Diätplan, die entsprechenden Bewegungsangebote und auch ein gesundheitsförderliches Umfeld, welches durch Radwege und gesunde Nahrungsangebote die Umsetzung überhaupt ermöglicht!
Sie haben 2013-2014 ein Sabbatical-Jahr in den USA verbracht – welche Ideen für Gesundheitsförderung und Prävention haben Sie aus Amerika mitgebracht?
Im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention hat mich das USA-Jahr vor allem darin bestätigt, wie zentral ein gesundheitsförderliches Umfeld mit ausgebauten Wander- und Velowegen, saubere Luft, einem gut funktionierendem Sozialsystem oder allen zugänglichen guten Bildungssystem ist, wie wir es bei uns haben. Beeindruckt hat mich hingegen die Innovationsfähigkeit, das Out-of-the-box-Denken oder auch der Fokus auf ständige Qualitätsverbesserung. Darüber hinaus ist die Patientenbewegung sehr stark und aktiv. Auf Staatsebene haben mich vor allem die Möglichkeiten fasziniert, Veränderungsprozesse voranzutreiben. So gibt es im Affordable Care Act (Obamacare) einen Innovationsartikel, der gezielte Innovationsprojekte fördert. Dabei werden verschiedene Konzepte und Modelle getestet, gezielt unterschiedliche Faktoren verändert und ihre Auswirkungen untersucht. Diese Projekte werden wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Bei Erfolg werden dann entsprechende Manuals für den Transfer in andere Regionen erstellt, aber vor allem «Facilitators» (z.B. Coaches) ausgebildet, die solche Veränderungsprozesse dann begleiten und unterstützen. Es gibt dafür ein eigenes Innovationscenter, welche ganze Staaten in der Umsetzung unterstützt und diverse NGOs, die innerhalb der Staaten dann die Implementierung unterstützen. Ein Konzept, dass mich auch sehr fasziniert hat, sind sogenannte «Learning Collaboratives», die zur Implementierung verschiedener neuer Modelle (z.B. Patient Centered Medical Homes) oder Neuerungen (z.B. elektronische Patientendossiers) eingesetzt werden. Eine Learning Collaborative kann am einfachsten so erklärt werden: Es handelt sich jeweils um ein Netzwerk von «Organisationen» (z.B. Assistenzpraxen), die sich für eine bestimmte Zeit (180 Tage) auf ein konkretes «Verbesserungsprojekt» fokussieren. Dies kann z.B. die Verbesserung des Zugangs von Patienten zur Praxis, oder «regelmässige Fallbesprechungen in einem interdisziplinären Team» sein. Es gibt eine klare Unterstützungsstruktur, die aus verschiedenen Elementen besteht: Einführung in die «Plan-Do-Study-Act» Methode (sprich, man lernt wie man plant, implementiert und Veränderungen misst um «echte Verbesserungen» zu erzielen). Dies wird durch Webinare, Coaching, Telefonkonferenzen oder auch Coaching vor Ort unterstützt. Es gibt zudem zweimal jährlich eine «Lern-Session», wo Vorgehen, Ideen, Ergebnisse und «lessons learned» unter «Peers» geteilt und diskutiert werden. Diese Veränderungsmethode wurde aus dem Agrarbereich übernommen. Dabei hat man die Erfahrung gemacht, dass sich Bauern nicht top-down etwas verordnen lassen wollen. Wenn jedoch ein anderer Bauer erzählt, wie er mit gewissen Veränderungen eine bessere Saat erzielt hat, dann hören sich die Bauern gegenseitig zu. Statt von oben zu verordnen, lernt man mit und von anderen Peers, man erhält konkrete Unterstützung, bezogen auf die eigenen organisationalen Schwierigkeiten. Zugleich hat man einen klaren «Verantwortungsplan» mit ausformulierten Zielen, Messungen (Datenerhebung sind ein MUSS) und Deadlines, welche auch nötige Rechenschaft verlangen. Diese Learning Collaboratives werden in den USA unterdessen sehr erfolgreich zur Verbesserung in verschiedenen Gesundheitsthemen angewendet.
Das sind nur ein paar Beispiele. Ich bin nach diesem Jahr tatsächlich mit vielen Erfahrungen und Kenntnissen zu neuen Ansätzen aus den USA, aber auch aus anderen europäischen Ländern (z.B. Norwegen, Holland, UK) zurückgekehrt. Ich hätte mir nach diesem Jahr auch gewünscht, dass mehr Innovation in der Schweiz möglich wäre und internationale Erfahrungen stärker in die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens miteinbezogen würden.
Wohin führt Sie Ihre eigene berufliche Zukunft?
Nachdem ich nun die kantonale wie auch nationale
Verwaltungsrealität kenne, möchte ich gerne die NGO-Welt von innen
kennenlernen.
In den USA habe ich die Möglichkeiten und Bedeutung von NGOs mit anderen Augen
zu betrachten gelernt. Ich wechsle deshalb zur Krebsliga, wo ich den neu
geschaffenen Bereich «Vorsorge, Betreuung, Nachsorge» mit den 4
Abteilungen «Prävention,
Früherkennung, Betreuung und Nachsorge» leiten werde. Dies erlaubt mir,
meinen
Worten Taten folgen zu lassen und integrierte Ansätze, anhand des
Patientenpfades
am Beispiel Krebs umzusetzen sowie Forschung und Praxis zu verbinden.
Mal
schauen, wie sich der Handlungsspielraum innerhalb einer NGO ausloten
lässt…