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«Die Pandemie beeinflusst Menschen mit einer psychiatrischen Vorerkrankung erheblich»

Der Wegfall von sozialen Kontakten, innerfamiliäre Spannungen oder die Angst vor Arbeitslosigkeit belasten zurzeit viele Menschen. Psychisch beeinträchtige Menschen leiden aber besonders unter der Pandemie, sagt Lisa Aeberhard von der Universitären Pychiatrischen Dienste Bern (UPD). Im Interview erklärt sie, warum und wie die UPD auf die aktuellen Herausforderungen reagiert.

Welche Folgen der Corona-Krise und der Massnahmen zur Eindämmung beobachten Sie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Wir alle wurden aufgrund der Pandemie gezwungen, bestehende Lebenssituationen an die gebotenen Veränderungen anzupassen und geeignete Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Derartige Herausforderungen können als Stressoren erlebt werden, die in mehr oder weniger hohem Ausmass unsere psychische Befindlichkeit beeinflussen. Damit haben sie unmittelbar oder zumindest mittelbar auch Auswirkungen auf unser familiäres Umfeld und auf die Kinder und Jugendlichen als Teil des «Systems Familie». Kommen existenzielle Ängste, Beziehungskonflikte oder enge Wohnverhältnisse hinzu, kann die Corona-Krise zur Belastungssituation für die ganze Familie werden.

Jugendliche erleben die angeordneten Massnahmen zusätzlich als einschneidend, weil sie ausserhalb ihrer digitalen Vernetzung Kontakte zu Peers stark reduzieren mussten und fast alle gemeinsamen Freizeitaktivitäten und Freiräume weggefallen sind. Statt einer Ausweitung des sozialen Radius als Teil eines gesunden Ablösungsprozesses und dem Erlangen von Autonomie, erleben sie eine monatelange Einschränkung von Freiräumen.

Was belastet die junge Generation am meisten?

Meiner Einschätzung nach stehen für gesunde junge Menschen vermutlich die erschwerten sozialen Kontakte im Zentrum.

Auch unsere Patientinnen und Patienten leiden unter dem Wegfall von Kontaktmöglichkeiten. Weil psychisch beeinträchtige Menschen häufig aber weniger soziale Kontakte pflegen und ihr Netzwerk tendenziell klein ist, erleben sie eher Gefühle von Einsamkeit und Isolation. Mehrfach wurden uns innerfamiliäre Spannungen geschildert, weil junge Patientinnen und Patienten unfreiwillig mehr Zeit daheim verbringen müssen. Es werden allgemeine Unsicherheiten sowie Ängste in Bezug auf die berufliche Zukunft geäussert.

Mehrere Patientinnen und Patienten sind von Kurzarbeit oder Kündigungen betroffen und erleben konkrete ökonomische Auswirkungen der Covid-Krise. Wir beobachten ebenfalls, dass zur Stressregulation vermehrt Alkohol oder andere Substanzen im Sinne einer Selbstmedikation verwendet werden.

Treten vermehrt psychische Belastungen oder sogar Neuerkrankungen auf?

Wir behandeln insgesamt eine Vielzahl von Patientinnen und Patienten mit verschiedensten Diagnosen sowie mit psychischen Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Ausprägungsgraden. Welche konkreten Auswirkungen Covid auf die Zielgruppen im Einzelnen hat, lässt sich zum heutigen Zeitpunkt noch nicht ausweisen.

Im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie ist hingegen bereits jetzt erkennbar, dass es im Vergleich zu den Vorjahren zu einer höheren Belegung auf der Notfallstation sowie zu einer signifikanten Zunahme der Einweisungen gekommen ist. Bezüglich Neuerkrankungen kann grundsätzlich festgestellt werden, dass soziale, biologisch-organische und psychische Faktoren in einer Wechselbeziehung stehen. Psychische Beeinträchtigungen wirken sich auf unsere beruflichen und sozialen Lebensbereiche aus, und vice versa beeinflussen ungünstige soziale, kulturelle oder ökonomische Determinanten wie z.B. die Auswirkungen einer Pandemie unsere Gesundheit. Akute psychosoziale Stressoren wie z.B. der drohende Verlust des Arbeitsplatzes beeinflussen auch die Therapie. Hier setzt in unserer Klinik die klinische Sozialarbeit an, welche die Bewältigung von psychosozialen Krisen und damit den Genesungsprozess unterstützt und damit letztendlich zu einer wirksamen, zweckmässigen und wirtschaftlichen Behandlung beiträgt.

Welchen Einfluss hat die Krise auf bereits früher Erkrankte?

Menschen – vor allem auch junge Patientinnen und Patienten - die bereits eine psychiatrische Vorerkrankung aufweisen, sind eine besonders vulnerable Gruppe. Oftmals sind sie sozial weniger gut integriert und nicht selten fehlt ein berufliches Netzwerk.
Bei manchen Patientinnen und Patienten beschränken sich soziale Austauschmöglichkeiten hauptsächlich auf institutionelle Kontakte und Tagesstrukturen. Wenn diese stabilisierenden Faktoren zerfallen oder sich verändern, kann alleine dies zu einer Dekompensation führen. Ebenso kann monatelanges Ausgeliefertsein an eine nicht beeinflussbare Situation als bedrohlich und angsteinflössend erlebt werden.

In besonderem Masse gilt dies für chronisch psychisch erkrankte Menschen, weil sie eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber krisenhaften Ereignissen aufweisen.

Haben Sie Tipps für Eltern, Lehrpersonen oder Peers?

Eine schwierige Frage, weil die Pandemie auf Kinder und Jugendliche unterschiedliche Auswirkungen hat. Ich habe als Sozialarbeiterin resp. Juristin keinen therapeutischen Hintergrund. Persönlich würde ich Eltern aber empfehlen, dass sie innerhalb der Familie auf einen strukturierten Tagesablauf und auf einen angemessenen Medienkonsum achten. Ich würde versuchen, mit Kreativität und Humor einen guten Ausgleich zwischen verbindlichen Regelungen und gegenseitiger Toleranz sowie zwischen familiärer Nähe und gemeinsam definierten Rückzugsmöglichkeiten zu finden. Sofern sich Eltern mit schwierigen Erziehungssituationen überfordert fühlen oder sich beim Kind Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten bzw. Lern- und Leistungsprobleme manifestieren, sollten Eltern sich nicht scheuen, im eigenen Interesse sowie im Interesse des Kindes Fachpersonen beizuziehen.

Eine solche Unterstützung kann z.B. über eine Erziehungsberatung erfolgen oder je nach Indikation auch über die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es gibt auch Beratungsangebote wie z.B. ProJuventute, die niederschwellig kontaktiert werden können.

Wie hat die Corona-Krise Ihren eigenen Arbeitsalltag verändert?

Sie führte zu einer deutlichen Mehrbelastung, der Arbeitsalltag veränderte sich zum Teil massiv und es gab zudem vieles zu regeln. Ich hatte zum Beispiel ganz zu Beginn der Corona-Krise gleichzeitig vier Schwangere in den Teams und es war mir ein Anliegen, dass diese Frauen spezielle Schutzmassnahmen erhielten. Also musste geklärt werden, in welchem Setting Gespräche mit Patientinnen und Patienten stattfinden können, ob die werdenden Mütter noch die Stationen besuchen oder an den interdisziplinären Rapporten teilnehmen u.a.m. Ich erlebte aber auch positive Aspekte. Ich habe das Glück, sehr kompetente Teamleitende zu haben, die ihre Mitarbeitenden an den verschiedenen Standorten engagiert begleiten. Dies wurde sehr geschätzt.

Haben Sie Angebote aufgrund der Corona Krise anpassen oder neu aufbauen müssen?

Sämtliche Berufsgruppen der interdisziplinären Teams haben bei ihren Behandlungsangeboten Anpassungen gemacht, um den Schutz der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. In der ersten Welle haben wir daher einzelne Angebote vorübergehend geschlossen oder reduziert. Mittlerweile haben wir in den UPD umfassende Schutzmassnahmen und die Sicherheit für alle kann gewährleistet werden.

Welche Lücken in der Betreuung und im Angebot waren bereits vor Corona vorhanden und wurden Ihres Erachtens zusätzlich akzentuiert?

Ein wichtiges Thema ist sicherlich die Finanzierung von ambulanten Angeboten. Diese sind zwar nach dem Grundsatz «ambulant vor stationär» versorgungspolitisch gewünscht, werden aber aktuell gegenüber den leistungserbringenden psychiatrischen Kliniken nicht genügend abgegolten.

Handlungsbedarf sehen wir insbesondere bei jungen Sozialhilfebezügerinnen und –bezügern mit hoher Fallkomplexität und diffuser gesundheitlicher Situation, bei denen eine psychische Beeinträchtigung bereits diagnostiziert wurde oder abgeklärt werden sollte. Aus diesem Hintergrund heraus entwickelten wir die Idee eines Kompetenzzentrums für junge Erwachsene «KojE». Ziel wäre es, bei jungen Erwachsenen Chronifizierungen zu verhindern, z.B. durch ambulante Begleitungen, Patientinnengruppen oder durch ein Case Management.

Wie sieht die Situation in der Klinik seit der Krise aus und mit welchen Herausforderungen haben Sie am meisten zu kämpfen?

Corona hatte und hat nicht nur für somatische Spitäler, die ja hauptsächlich im Fokus der Öffentlichkeit stehen, sondern auch in der Psychiatrie vielfältige Auswirkungen. Es waren hygienetechnische sowie strukturelle Anpassungen erforderlich, z.B. bei der Aufnahme von zu behandelnden Personen, in Bezug auf die Durchführung von Einzel- und Gruppentherapien sowie in weiteren Klinikprozessen. Es mussten Regelungen für den Umgang mit Covid-positiven Patientinnen und Patienten getroffen werden, namentlich die Umsetzung von gegebenenfalls nötigen Quarantänemassnahmen auf den Stationen.

Eine spezifische Herausforderung ist auch die Gewährleistung der Sicherheit im psychiatrischen Notfall oder bei Personen, die aufgrund ihrer Erkrankung Schwierigkeiten haben, die Situation und die erforderlichen Schutzmassnahmen zu verstehen.

In den UPD wurde bereits früh eine Task Force einberufen, die u.a. gestützt auf die Empfehlungen des BAG die Mitarbeitenden bei der Umsetzung der klinikinternen Massnahmen unterstützt.

Gibt es Aspekte und Erfahrungen, die Sie als hilfreich aus der Coronakrise mitnehmen und längerfristig weiterverfolgen möchten?

Die Erfahrungen der Coronakrise haben uns einmal mehr deutlich die Korrelation von ungünstigen sozialen bzw. sozioökonomischen Faktoren mit psychischen Erkrankungen aufgezeigt. Die Folgen der Krise werden vermutlich noch während langer Zeit feststellbar sein, insbesondere bei besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen wie psychisch beeinträchtigten jungen Erwachsenen. Da sehe ich ein Risiko, dass sich in der Isolation ungeeignete Coping-Strategien, z.B. im Bereich Suchtverhalten, über die Monate der Krise verfestigen. Diese Einschätzung bekräftigt uns, in diesem Jahr das Projekt «KojE» intensiv voranzutreiben.

Lisa Aeberhard ist Mitglied der Klinikleitung der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Co-Präsidentin des Schweizerischen Fachverbandes Soziale Arbeit im Gesundheitswesens SAGES.

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