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«Die Zukunft gehört den interprofessionellen Teams»

Ausgabe Nr. 137
Jun. 2023
Gesundheit und Soziales: Schnittstellen stärken

Vieles spricht dafür, Sozialarbeitende in die medizinische Grundversorgung zu integrieren. Denn komplexe Fälle lassen sich gemeinsam besser betreuen, meinen der Hausarzt Michael Deppeler und René Rüegg, Experte für Sozialarbeit, im Gespräch.

Dr. René Rüegg

René Rüegg hat zuerst Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz und dann Sozi- alwissenschaften an der Universi- tät Zürich studiert, bevor er an der Universität Bern in Gesundheits- wissenschaften (Public Health) doktorierte. Rüegg ist seit dem Jahr 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Departement Sozi- ale Arbeit der Berner Fachhoch- schule und hat dort das For- schungsprojekt «Soziale Arbeit in der Arztpraxis» geleitet.

Dr. med. Michael Deppeler

Michael Deppeler ist ärztlicher Leiter der Salutomed-Arztpraxis, die er zusammen mit vier Kolle ginnen und Kollegen vor knapp zwanzig Jahren als ein «Zentrum für integrative Grundversorgung» gegründet hat. Deppeler ist auch Gründer und Co-Leiter des Forums dialoggesundheit, das in der Gemeinde Zollikofen mit einem partizipativen Ansatz und regelmässigenTreffen, die der Bevölkerung offenstehen, «die konstruktive Zusammenarbeit im Gesundheitswesen» fördert. Aus diesem Dialog ist auch die Initiative der Gesundheitsregion «xunds-grauholz» entstanden.

Herr Rüegg, Sie haben mit Ihrem Forschungsprojekt evaluiert, wie sich Sozialarbeitende in der Arztpraxis bewähren. Was ist dabei herausgekommen?

René Rüegg: Solche Zusammenarbeitsmodelle sind im Ausland, etwa in Belgien, ziemlich verbreitet, aber bei uns in der Schweiz noch sehr selten. Wir haben vier Pilotpraxen untersucht und begleitet. Die wichtigste Erkenntnis für mich war, dass alle beteiligten Ärztinnen und Ärzte gesagt haben, sie könnten sich dank Sozialarbeitenden in ihrer Praxis besser auf ihre medizinischen Tätigkeiten fokussieren. Sie waren mit der Zusammenarbeit sehr zufrieden und empfanden die Sozialberatung als grosse Entlastung. Auch die Patientinnen und Patienten berichteten, dass sich ihre psychische Verfassung während einer Sozialberatung verbesserte – und dass sie weniger oft zu ihrem Arzt oder ihrer Ärztin mussten. Insgesamt ergab sich also ein doppelter Nutzen, nicht nur für die Ärzteschaft, sondern auch für die Patientinnen und Patienten.

Herr Deppeler, Ihre Praxis gehört zu den Pilotmodellen.

Michael Deppeler: Ja, wir sind allerdings schon seit über zwanzig Jahren so unterwegs. Das hat auch damit zu tun, dass ich in den 1990er-Jahren im Berner Lory-Spital medizinisch sozialisiert worden bin, wo wir unter der Leitung von Professor Rolf Adler die biopsychosoziale Medizin gelebt und praktiziert haben. Dort waren wir es uns gewohnt, in interprofessionellen Teams zu arbeiten. Das habe ich dann mitgenommen, als ich mit Kolleginnen und Kollegen unsere Hausarztpraxis gründete. Von Anfang an haben wir mit Psychologinnen und Psychologen zusammengearbeitet, vor allem auch in heiklen Bereichen, etwa wenn es darum geht, die Suizidalität einer Person abzuklären oder eine Krisenintervention zu machen.  

Seit fast zehn Jahren arbeiten wir auch mit einem Sozialarbeiter zusammen. Er berät unsere Patientinnen und Patienten, wenn sie akute finanzielle Sorgen haben oder ein Pflegeheim suchen müssen. Und er weiss, wie man Hilflosenentschädigungen oder Assistenzbeiträge beantragt. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir im Team komplexe Fälle besser betreuen können. Als Arzt kann ich bei psychologischen oder sozialen Problemen auf zusätzliche Ressourcen zurückgreifen und mich mehr auf das Somatische konzentrieren, auch wenn ich natürlich immer die ganze Situation im Blick behalten muss. Ausserdem habe ich in der Zusammenarbeit immer auch sehr viel gelernt, kürzlich etwa darüber, wie man Schulden saniert.

Das tönt nach durchschlagendem Erfolg. Aber wieso gibt es dann nur so wenige Arztpraxen mit integrierter Sozialarbeit in der Schweiz? Weil das mehr kostet?

Michael Deppeler: Ich brauche für die Beratungen meiner Patientinnen und Patienten mit ihren komplexen Lebens- und Leidensgeschichten in der Praxis mehr Zeit. Deswegen muss ich auch alle drei Jahre mit santésuisse, der Branchenorganisation der Schweizer Krankenversicherer, verhandeln, ob das, was ich mache, wirtschaftlich und wirksam ist oder nicht. Das sind nervenaufreibende Gespräche, in denen ich zu erklären habe, wieso ich für meine Patientin oder meinen Patienten 16 oder 17 Minuten brauche statt nur 13. Aber wenn ich in meinem Netzwerk verhindern kann, dass jemand ins Spital muss, spare ich Tausende von Franken ein. Deshalb müsste es möglich sein, einen Teil dieses eingesparten Gelds für Sitzungen und andere Koordinationsarbeiten im Netzwerk auszugeben.


René Rüegg: Für eine einzelne Praxis ist es schwierig, zu beweisen, dass Folgekosten eingespart werden konnten. Dafür müsste man die Krankenkassendaten von Personen- oder Risikogruppen auswerten und miteinander vergleichen können. Leider ist es immer noch sehr schwierig, an solche Daten zu gelangen. Doch im letzten Jahr hat der Bund im Rahmen von Kostendämpfungsmassnahmen beschlossen, Netzwerke zur koordinierten Versorgung zu fördern. Das bedeutet, dass der Bund solche Netzwerke als ökonomisch sinnvoll erachtet und ihren Mehrwert anerkennt. Das ist also eigentlich unbestritten. Trotzdem ist es für eine Ärztin oder einen Arzt schwierig, die eigene Praxis auf die integrierte Versorgung auszurichten. Denn der Aufbau eines Netzwerks ist – vor allem am Anfang – mit einem grossen Aufwand verbunden.


Michael Deppeler: Aber ich finde es sehr wichtig, das Gesundheits- und das Sozialwesen miteinander zu verzahnen. Aktuell betreiben wir einen grossen Aufwand, um die Kosten von einem Geldtopf in einen anderen zu verschieben. Wenn ich nur schon an die vielen IV-Zeugnisse denke, die ich zum Beispiel für Menschen ausstelle, die aufgrund von chronischen Erkrankungen ihre Arbeit verlieren. Oft wird ihr Antrag nach monatelanger Prüfung abgelehnt, am Schluss landen sie in der Sozialhilfe. Wir sollten das sektorielle Denken überwinden und die Finanzierung neu denken.

Mehrere Studien belegen, dass die soziale Not in Regionen, wo es ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt, abgefedert ist. Und dass die Menschen dort weniger in den Notfall müssen – und auch weniger Gesundheitskosten verursachen. Genau wie Geld allein nicht glücklich macht, macht Geld allein auch nicht gesund. Aber ohne Geld ist es schwierig, gesund zu bleiben.

Inwiefern wirken sich soziale Probleme – wie etwa Einsamkeit oder Armut – auf die Gesundheit aus?

René Rüegg: Aus der Theorie wissen wir, dass Personen meist aufgrund einer ganzen Palette von psychosozialen Determinanten krank werden. Aber dass umgekehrt eine Krankheit auch zahlreiche soziale Folgen haben kann. Wer zum Beispiel eine Krebsdiagnose erhält, riskiert, die Arbeitsstelle zu verlieren. Betroffene erleiden so nicht nur eine Einkommenseinbusse, auch die Kontakte mit früheren Kolleginnen und Kollegen verringern sich.


Michael Deppeler: Deswegen sind wir salutogenetisch unterwegs. Wir wollen zuerst verstehen: Wie nimmt mein Gegenüber das Problem wahr? Dann interessiert uns als Zweites: Welche Ressourcen hat die Person schon und welche muss ich ihr – in Form eines professionellen Helfernetzes – vorübergehend zur Verfügung stellen? Als Drittes kommt dann die Sinnfrage. Ich begegne in meiner Praxis so vielen Leuten, die resigniert sind. Dabei stellt das Gefühl der Hilflosigkeit und der Ohnmacht eine physiologische Belastung des HerzKreislauf-Systems dar, denn es wirkt sich auf die Stressachse aus. Studien zeigen, dass solche Gefühle gleich viele Schlaganfälle und Herzinfarkte verursachen wie das Rauchen. Aber diese psychosozialen Belastungen erhalten beim Herzspezialisten keine Beachtung. Im Fokus stehen nur immer das Cholesterin, der Blutzucker oder der Blutdruck. Und es ist natürlich einfacher, einen Cholesterinsenker zu verschreiben, als gegen das Ohnmachtsgefühl vorzugehen. 

«Ich habe gelernt, dass das KVG relativ viele Freiheiten lässt, man muss sie einfach nutzen. Denn grundsätzlich gibt es nur sehr wenige ärztliche Tätigkeiten, die sich nicht delegieren lassen.»

Eine Spritze oder eine Pille zu verabreichen, entspricht auch eher dem, was sich die Gesellschaft unter einer ärztlichen Tätigkeit vorstellt, als ein Helfernetz aufzubauen.

René Rüegg: Ja, bei uns sind die Ärztinnen und Ärzte für die Behandlung von Krankheiten zuständig. Für den Erhalt oder die Förderung von Gesundheit bleibt nur wenig Zeit in der schulmedizinischen Versorgung. 


Michael Deppeler: Es sind auch keine Leistungen, die nach dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) abgegolten werden. Aber ich habe gelernt, dass das KVG relativ viele Freiheiten lässt, man muss sie einfach nutzen. Denn grundsätzlich gibt es nur sehr wenige ärztliche Tätigkeiten, die sich nicht delegieren lassen, etwa die Todesbestätigung oder die Leichenschau. Alle anderen Handlungen kann ich in Auftrag geben. So wie ich etwa Blutentnahmen oder die Anfertigung von Röntgenbildern an die medizinischen Praxisassistentinnen delegiere, kann ich für meine Patientinnen und Patienten auch eine kompetente Sozialberatung vermitteln und diese Beratung als ärztlich mandatierte Leistung abrechnen. Das ist gesetzlich zwar nicht vorgesehen, aber es ist nicht verboten. Wir bewegen uns da in einer Grauzone. 


René Rüegg: Ausserdem können Sozialarbeiterinnen und -arbeiter über sogenannte gemeinwirtschaftliche Leistungen von den Kantonen abgegolten werden, wie das BAG herausgefunden hat, als es abgeklärt hat, wie Sozialarbeitende in den Netzwerken zur koordinierten Versorgung finanziert werden könnten. Es braucht also keine gesetzlichen Anpassungen, sondern es ist jetzt schon machbar. Allerdings gibt es noch keinen Präzedenzfall, noch kein kantonales Modell, worauf sich andere Kantone beziehen könnten. Ich würde mir wünschen, dass ein Kanton bald diese Pionierrolle übernimmt. Denn wenn heute Patientinnen und Patienten etwa in den Gesundheitsligen zur Sozialberatung gehen, brennt es meist schon an allen Ecken und Enden. Dann ist man eigentlich nur noch am Feuerlöschen. Deshalb wäre es sinnvoller, wenn Sozialarbeitende in den Arztpraxen die Probleme schon früher aufgreifen könnten. Dann liessen sich auch die oft darauffolgenden negativen Kettenreaktionen verhindern.

«Ich denke, dass das Gesundheitswesen der Zukunft konsequent bevölkerungsorientiert sein muss, denn so entstehen auch attraktive Arbeitsplätze, wo man nicht einfach nur Dossiers abarbeitet.»

Zum Schluss: Was, denken Sie, erwartet uns in Zukunft?

René Rüegg: Meine Vision lehnt sich eng an das Modell der «maisons médicales» in Belgien an. Das sind über das ganze Land verteilte Gesundheitszentren, wo Sozialarbeitende nahe bei den Menschen sind – und als gleichberechtigte Partner zum medizinischen Team dazugehören. Ich denke, dass das Gesundheitswesen der Zukunft konsequent bevölkerungsorientiert sein muss, denn so entstehen auch attraktive Arbeitsplätze, wo man nicht einfach nur Dossiers abarbeitet, sondern im direkten Austausch mit der Bevölkerung steht – und gemeinsam aufbaut, was gewünscht und geschätzt wird.


Michael Deppeler: In der Grundversorgung ist die Zeit der Einzelkämpfer meiner Meinung nach vorbei. Beratende und koordinierende Tätigkeiten werden immer wichtiger. Wir sollten deshalb schon jetzt andere Schwerpunkte in der Aus- und Weiterbildung setzen. Mir schwebt als Vision ein Bachelor an der Fachhochschule für die Grundversorgung vor, wo Medizinerinnen, Sozialarbeiter und Pflegefachleute während dreier Jahre eine gemeinsame Sprache entwickeln und dabei lernen, wie man gut zusammenarbeitet. Denn die Zukunft gehört den interprofessionellen Teams.

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