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«Digitale Kanäle senken die Zugangsschwelle für die Suchtberatung»

Am 16. Mai 2022 hat Infodrog in Zusammenarbeit mit dem BAG das Symposium «Online-Beratung, Blended Counseling, digitale Selbsthilfe» organisiert. Referent Martin Lobsiger von der Berner Gesundheit erzählt im Interview von seinen Erfahrungen, die er als Berater mit Blended Counseling gemacht hat. Er wünscht sich, dass die digitalen Kanäle von Fachpersonen die gleiche Anerkennung erhalten, wie die Face-to-Face-Beratung.

Herr Lobsiger, was bedeutet Blended Counseling?

Martin Lobsiger: Der Begriff kommt aus dem Englischen und bedeutet «gemischte Beratung». Die Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW hat sich intensiv mit dieser Beratungsform beschäftigt und ist zu einer Definition gelangt, an der auch wir uns orientieren: «Blended counseling umfasst die systematische, konzeptionell fundierte, passgenaue Kombination verschiedener digitaler und analoger Kommunikationskanäle in der Beratung». Es geht also darum, auf verschiedenen Kanälen miteinander zu kommunizieren. Und dies nicht einfach nach Gutdünken, sondern mit fachlichen und konzeptionellen Überlegungen.

Das heisst?

Es gilt zu überlegen, wann welcher Kanal zum Einsatz kommt, oder wann und wie gewechselt wird. Die FHNW hat dies in verschiedenen Projekten erforscht, unter anderem auch mit unseren Projekten «Beramix – Beratungsmix» und «Face to Face und mehr». Auf der Website www.blended-counseling.ch stellen sie die Ergebnisse aus diesen Projekten zusammen – das ist eine sehr spannende Grundlagenseite zum Thema.

Ist die digitale Beratung bei der Berner Gesundheit fest verankert?

Bei der Berner Gesundheit setzen wir uns seit 12 Jahren mit Digitalisierung und komplementären Beratungskanälen auseinander. Der erste Meilenstein war 2010: Der damalige Geschäftsführer Bruno Erni regte die Schaffung einer digitalen Beratungsplattform an. Daraus ist kurze Zeit später safezone.ch entstanden – heute die Onlineplattform in der Suchtberatung.
2015 lancierte Berner Gesundheit die App MyDrinkControl, ein Selbstmanagement-Tool zur Beobachtung des Alkoholkonsums. Seit 2017 bieten wir auf unserer Internetseite auch einen Chat an, seit 2020 die App NoA-Coach. Das heisst, Beratungssuchende haben neben Telefon und Mail noch weitere Kanäle zur Verfügung.

Bei Beratungen ist die Vertraulichkeit zentral – ist die auf den Online-Kanälen gewährleistet?

Die Einhaltung des Datenschutzes ist von höchster Bedeutung. Die Mailverschlüsselung ist ein grosses Thema: Eine Outlookmail hat den Sicherheitsstatus einer Postkarte – wer will, kann sie auch unbefugt lesen. Deshalb sind unverschlüsselte E-Mail für Beratungsprozesse nur äusserst bedingt tauglich, am ehesten für eine Terminvereinbarung.
Gemeinsam mit der FHNW haben wir die Sicherheitsaspekte untersucht: Welche sicheren Messengers, die den Datenschutzanforderungen entsprechen, gibt es? Welche Mailverschlüsselungen existieren, welche Apps wären allenfalls nutzbar?

Heute bieten Sie eine sichere Online-Beratung.

Seit 2020 können wir dank SafeZone sicher und datengeschützt mit Ratsuchenden kommunizieren. Wir als Suchtberatungsstelle haben Online-Beratungsräume bei SafeZone gemietet – beide Seiten schreiben direkt auf den Server. Mit der dort eingesetzten Sicherheitstechnologie können wir sichere Online-Beratung auf unserer eigenen Internetseite anbieten. Die Ratsuchenden merken nicht zwingend, dass dieser Kanal über SafeZone läuft. Und das Ganze ist sehr intuitiv zu bedienen – für Beratende und Ratsuchende.

Seit 2020 hat Berner Gesundheit ein weiteres Instrument für Blended Counseling – den NoA-Coach.

Das ist eine Handy-App, momentan ausschliesslich zum Thema Alkoholkonsum. Zum einen ist das ein Selbstmanagement-Tool mit einem Konsumtagebuch zur Beobachtung des eigenen Konsums und der Arbeit mit eigenen Zielen. Die App bietet zudem einen verschlüsselten Kommunikationskanal zur eigenen Beratungsperson von Berner Gesundheit. Damit schliesst NoA-Coach die bisherige Lücke zwischen Selbstmanagement-Tool und einem Beratungsangebot.

Auch wenn Berner Gesundheit schon länger auf digitale Beratung setzt: Hat die Pandemie etwas verändert?

Die Zeit der Pandemie hat einiges beschleunigt. So haben wir im Bereich Video-Beratung extrem schnell Fortschritte gemacht. Heute gehört Video-Beratung zu unserem festen Kanal-Angebot – wir nutzen das regelmässig. Sowohl für Fachleute wie auch für die Gesellschaft ist es in den letzten zwei Jahren normal geworden, Online-Kanäle zu nutzen.

Wo sehen Sie den grössten Nutzen von Blendend Counseling?

Es erhöht die Verbindlichkeit des Kontakts. Zwischen den Face-to-Face-Terminen besteht die Möglichkeit, einander zu kontaktieren. Eine Klientin oder ein Klient kann mir schreiben, wenn es an einem Abend schwierig wird – zum Beispiel, wenn die Person mehr konsumiert, als sie sich vorgenommen hat. Der Kontakt wird also enger, tragender. Ziel ist es, Beratungsabbrüche zu vermeiden.

Digitale Kanäle bieten auch mehr Flexibilität...

Mit den digitalen Kanälen können wir natürlich mehr Personen erreichen, zum Beispiel solche, die zu normalen Bürozeiten nicht zu einem Gespräch kommen können. Wir leben in einer sehr mobilen Gesellschaft mit unterschiedlichen Lebensrealitäten. Dank den digitalen Kanälen können wir auch Personen Unterstützung bieten, die beispielweise im Ausland weilen oder aktuell in einem strengen Projekt arbeiten. Die digitalen Kanäle sind weniger abhängig von Standort und Tageszeit. Für die Suchtberatung und Suchttherapie haben digitale Kanäle ein enormes Potential: Sie senken die Zugangsschwelle für die Beratung.

Weil Sucht- und Konsumthemen oft auch mit Scham behaftet sind?

Ja – über Online-Kanäle kann ich als Ratsuchender komplett anonym bleiben. Es ist problemlos möglich, beim Jahrgang, beim Geschlecht und Namen mogeln. So kann ich mich komplett anonym über mein Problem austauschen. Das senkt die Hemmschwelle, mein Problem überhaupt irgendwo zu thematisieren.

Aber digitale Kanäle sind einfach eine Ergänzung der Face-to-Face-Beratung?

Nein. Es gibt reine Online-Beratungsprozesse. SafeZone hat sich hier sehr bewährt. Aus einer Online-Beratung können auch Face-to-Face-Beratungen entstehen und umgekehrt. Es gibt sehr viele Möglichkeiten der Kombination und der Passung an die individuelle Situation. Fachpersonen dürfen wegkommen von der Idee, dass Fachberatung grundsätzlich Face-to-Face ist. Online-Kanäle sollen nicht nur eine Not-Option sein, falls ein Gespräch nicht zustande kommt, sondern sind gleichwertige Kanäle mit Chancen und Grenzen. Diesen Lernprozess musste auch ich durchlaufen.

Wieso ist denn ein Umdenken so schwierig?

Face-to-Face ist für uns Beratende sehr verlockend, weil der Habitus von Personen Rückschlüsse ermöglicht: Man sieht, hört und riecht einander. Man sieht die Mimik, die Gestik, die Körperhaltung. Das fehlt am Telefon oder im schriftlichen Kontakt. Wir müssen lernen, die einzelnen Kanäle als komplementäre Kanäle zu verstehen, die das bieten, was sie eben bieten. Online-Kanäle sollen als gleichwertig anerkannt werden, nicht nur als «Beigemüse». Blended Counseling ist aber nicht für jede ratsuchende Person das Richtige. Nach wie vor sind bei uns 80 Prozent der Beratungen Face-to-Face. Aber bereits einer von fünf Ratsuchenden profitiert vom Blended-Angebot.

Bringt Blended Counseling auch Nachteile?

Klar ist: Fachpersonen und Ratsuchende müssen sich auf digitale Kanäle einlassen können. Es braucht eine gewisse Offenheit von beiden Seiten, auch mal etwas auszuprobieren. Wer denkt, dass nur Face-to-Face Erfolgt bringt, wird mit Blended Counseling weniger Erfolge erzielen. Wer zum Beispiel von unserem NoA-Coach nicht überzeugt ist, bietet ihn besser nicht an. Dann bringt er nichts. Wer mit digitalen Kanälen arbeitet, sollte von ihrem Nutzen und Potential auch überzeugt sein.

Müssen sich Beraterinnen und Berater weiterbilden, wenn sie Blended Counseling anbieten?

Schriftliche Antworten fordern tatsächlich andere Techniken als ein Face-to-Face-Gespräch. Schriftlich zu kommunizieren unterschätzen viele, das Verfassen einer Antwort kann sehr anspruchsvoll sein. Aber es gibt Techniken, bestimmte Vorgehensweisen und Tools, die einen dabei unterstützen. Weiter sind auch technische Fertigkeiten nötig. Man muss bereit sein, sich diese anzueignen. In unserem Team haben alle, die mit SafeZone arbeiten, ein Mentoring durchlaufen – das hat sich sehr gelohnt.

In welchen anderen Feldern würde Blendend Counseling aus Ihrer Sicht Sinn machen?

In der Jugendarbeit hätte der Ansatz wahrscheinlich viel Potential. Auch Jugendliche sind immer mit dem Handy unterwegs. Niederschwelligkeit und die Orientierung an der Lebenswelt ist in diesem Bereich sehr wichtig. Digitale Räume sind für Jugendliche und junge Erwachsene genauso real, wie das Büro, in dem ich gerade sitze. Ich finde es deshalb wichtig, dass nicht nur in analogen Räumen, sondern auch in digitalen Räumen Unterstützung zur Verfügung steht. In ein paar Jahren wird Blended Counseling sicher auch in der Arbeit mit älteren Menschen interessant. Immer mehr werden auch ältere Menschen den Umgang mit digitalen Kanälen gewohnt sein. Personen mit körperlichen Einschränkungen profitieren schon heute von digitalen Angeboten. Auch im Bereich der psychischen Gesundheit gäbe es wohl viel Potential. Da stelle ich mir zum Beispiel eine Person mit Angststörungen vor, die nicht aus dem Haus kann. Im Bereich des Selbstmanagements könnten ähnliche Tools wie der NoA-Coach sehr viel bringen, auch für andere Konsumthemen.

Was würden Sie aufgrund Ihrer Erfahrung anderen Institutionen raten?

Wenn eine Organisation vermehrt auf Blended Counseling setzen will, braucht es ein klares Commitment auf allen Ebenen. Bei den Fachmitarbeitenden braucht es sicher Personen, die sich dafür begeistern lassen – und dies mit den nötigen Ressourcen, der nötigen Zeit und dem Rückhalt ihrer Leitung ausprobieren dürfen.
In den ersten Schritten lohnt es sich, Fachstellen zu kontaktieren, die Blended Counseling schon anbieten. Von guten Praxisbeispielen kann man viel lernen: Welche Tools sind nutzbar und entsprechen den Datenschutzvorgaben? Was entspricht den Bedürfnissen der Zielgruppe? Wenn ein erstes passendes Tool gewählt ist und man damit zu arbeiten beginnt, ist der Anfang schon gemacht.

Martin Lobsiger arbeitet bei der Berner Gesundheit und ist Regionalleiter Beratung und Therapie des Zentrums Bern-Mittelland.

Berner Gesundheit

Kernaufgaben der Stiftung Berner Gesundheit sind Gesundheitsförderung, Prävention, Sexualpädagogik sowie Suchtberatung und -therapie im Auftrag des Kantons Bern.
Telefon 0800 070 070, www.bernergesundheit.ch,

Kontakt

Jann Schumacher
Sektion Prävention in der Gesundheitsversorgung

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