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Partizipation als gemeinsamer Hebel für Massnahmen im Sozial- und Gesundheitswesen

Alain Plattet, Leiter der Stelle für sozialen Zusammenhalt der Gemeinde Chavannes-près-Renens, berichtet im Interview über seine Erfahrungen mit dem bewährten Projekt «Cause commune» (Gemeinsame Sache oder auch Gemeindesache).

Die Stakeholderkonferenz zu den nationalen Präventionsstrategien vom 20. Juni 2023 in Bern wird vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) organisiert. Dabei sollen die Schnittstellen zwischen Sozial- und Gesundheitswesen im Laufe des Lebens aufgezeigt werden. Ein Projekt der Gemeinde Chavannes-près-Renens veranschaulicht die Vorzüge dieses Ansatzes, der zwei für die Lebensqualität wesentliche Bereiche miteinander verbindet. Das Projekt Cause commune (Gemeinsame Sache oder auch Gemeindesache) ist generationenübergreifend, interdisziplinär, mit dreifacher Ausrichtung: Es fördert das Bürgerengagement durch den Aufbau lokaler Programme, es schafft Mehrwert für die Sozialqualität und es beeinflusst die Gesundheit positiv. Alain Plattet, Leiter der Stelle für sozialen Zusammenhalt der Gemeinde Chavannes-près-Renens, berichtet über seine Erfahrungen mit diesem bewährten Projekt.

Wie würden Sie das Projekt Cause commune beschreiben? An wen richtet es sich und in welchem Kontext ist es entstanden?

Alain Plattet: Dieses Projekt läuft seit 2019. Es beruht auf einem partizipativen, lokalen Aktions-Forschungs-Ansatz. Die Umsetzung erfolgt in der Gemeinde in Zusammenarbeit mit der Wohnbevölkerung, der Gemeindeverwaltung, den politischen Akteuren und dem interdisziplinären Zentrum für Lebenslaufforschung LIVES (Swiss Centre of Expertise in Life Course Research), an welchem mehrere Universitäten beteiligt sind. Die Gemeinde Chavannes-près-Renens ist Trägerin dieser Pilotidee. Die Förderung von Partizipation und Zusammenarbeit soll nachweislich Folgendes bewirken:

- vermehrte individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit in der Gemeinde

- signifikante Einflussnahme auf die Sozialqualität 

- positive Beeinflussung der Gesundheit in der Bevölkerung 

Die Idee entstand aufgrund der Prognosen zur lokalen demografischen Entwicklung, wonach die Bevölkerung in dieser Region wächst und sich innerhalb von fünfzehn Jahren (von 2015 bis 2030) verdoppelt. Dies hat die Stadtverwaltung dazu veranlasst, sich Fragen zu stellen und sich mit innovativen und effizienten Vorschlägen zu befassen, um die Qualität des sozialen Zusammenhalts angesichts dieser Rahmenbedingungen möglichst breit abzustützen. Das Ziel dieses Projekts ist es, Sozialprogramme aufzubauen, die hauptsächlich von der Bevölkerung getragen werden.

Dazu führen Sozialarbeitende der Gemeinde über mehr als sechs Monate Einzelgespräche mit Vertreterinnen und Vertretern aller Generationen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ältere Menschen) in den betroffenen Quartieren. Anschliessend werden die interviewten Personen eingeladen, sich in einer Arbeitsgruppe mit den für sie wichtigsten Themen auseinanderzusetzen und zu versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden. Oft schlagen die Teilnehmenden neue Ansätze vor, die nachweisliche Mängel in ihren Alltagssituationen beheben. Diese Sozialprogramme werden in Zusammenarbeit mit der Stelle für sozialen Zusammenhalt initiiert und entwickelt, bevor eine Form der Selbstverwaltung durch die Quartiersbevölkerung ins Auge gefasst wird. Die Programme entsprechen somit in erster Linie den Wünschen, Bedürfnissen und Erwartungen der Ortsansässigen. Da sie von den Betroffenen selbst gewollt sind, ergeben sie umso mehr Sinn und haben eine stark motivierende und engagierende Wirkung. Durch ihr Engagement fühlen sich die Betroffenen eingebunden und wertgeschätzt. Der Umstand, dass man ihnen zuhört sowie ihre Bedürfnisse berücksichtigt und ernst nimmt, schafft eine langfristige Bindung. Das ist eine Grundvoraussetzung für den sozialen Zusammenhalt. Mittel- bis langfristig übernimmt die Stadt dann die Rolle der Koordinatorin und Begleiterin, um die Bevölkerung zu unterstützen, und gewährleistet damit eine verantwortungsvolle, gemeinschaftliche Entwicklung für alle. Die Steuerung der partizipativen Praktiken erfolgt dabei verwaltungsintern. 

Gleichzeitig wird die Wohnbevölkerung im Rahmen eines (von LIVES getragenen) Forschungsprojekts zeitlich gestaffelt (Längsschnittstudie) befragt. Dazu hat das Forschungsteam ebenfalls in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung einen forschungsbasierten Fragebogen mit rund 100 Fragen erarbeitet. So sollen Informationen gesammelt werden, die über einen bestimmten Zeitraum ein Bild von der wahrgenommenen sozialen, physischen und psychischen Gesundheit in der Gemeinde vermitteln und damit die erkennbare Wirkung des Projekts Cause commune aufzeigen. Partizipation ist für das Projekt zentral, und mit der Unterstützung durch die Forschung können wichtige Brücken geschlagen und die gesammelten Ergebnisse weitergegeben werden. Beispielsweise können Stadtplaner und politische Gemeindeakteure so konkret herausfinden, welche Orte bei der Bevölkerung beliebt sind. Die Rückmeldungen der Einwohnerinnen und Einwohner ermöglichen es, die Gemeindepolitik überlegt, präzise und effizient zu analysieren und weiterzuentwickeln.

Konkret hat das Quartier «La Blancherie» das Angebot an generationenübergreifenden soziokulturellen Programmen innerhalb von zwei Jahren auf zehn ausgebaut. Diese Programme werden nun teilweise von Einwohnerinnen und Einwohnern aller Altersgruppen selbst geführt. Daran zeigt sich der Wille, Programme von und für die Wohnbevölkerung umzusetzen, was zu mehr Integration und sozialem Zusammenhalt führt, die beide Indikatoren für Sozialqualität sind. Die Einbeziehung eines Forschungsteils in das Projekt Cause commune ermöglicht es, die Entwicklung über eine bestimmte Zeit zu verfolgen (evidenzbasiert) und die Früchte der gemeinsam geleisteten Arbeit zu ernten (zusammenhängende Faktoren zu ermitteln und zu verstehen). Die Gemeinde und das Forschungsteam des Universitätszentrums arbeiten eng mit dem Sozialdienst und der Bevölkerung zusammen. Dadurch werden einerseits optimale Rahmenbedingungen zur Förderung der Partizipation geschaffen, und andererseits lässt sich die Entwicklung des Projekts über die Jahre hinweg quantifizieren und vergleichen. Zudem erhält die Bevölkerung mehrere Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Cause commune ist ein gutes Beispiel für eine übergreifende Zusammenarbeit auf Gemeindeebene.

Was sind die Grundhypothesen des Ansatzes?

Die Ausgangshypothese ist, dass sich soziale Bewegung – durch soziokulturelle Aktivitäten – auf die Sozialqualität auswirkt, was wiederum die Gesundheit positiv beeinflusst.

Lässt sich bereits feststellen, dass diese Hypothesen begründet sind?

Die ersten Rückmeldungen (zum Sozial- wie auch zum Forschungsteil) zeigen überzeugende Ergebnisse für diese Gemeinde. Bei der Forschungsarbeit liess sich im Laufe der drei Projektetappen nachweisen, dass viel Bürgerengagement entstanden ist (zahlreiche selbstorganisierte Aktivitäten) und dass sich dies sehr positiv auf die Indikatoren der Sozialqualität ausgewirkt hat. Auch eine Wirkung auf die Gesundheit liess sich feststellen (wobei viele Faktoren noch ermittelt und langfristig geklärt werden müssen).

Wurden spezifische Begleitinstrumente bereitgestellt?

Von Anfang an wurde das Projekt von den Waadtländer Generaldirektionen für sozialen Zusammenhalt und Gesundheit (DGCS und DGS) sowie von der Leenaards-Stiftung finanziell unterstützt. Diese Partner, die an den innovativen Aspekten des Ansatzes interessiert waren, wollten im Laufe des Projekts möglichst viele der bewährten Praktiken so nutzen können, dass die Erfahrungen von Chavannes anderen Gemeinden den Weg ebnen würden. Die bereitgestellten Instrumente sind mit einem Werkzeugkasten vergleichbar, den alle gemeinsam nutzen, um neue Synergien zu schaffen. Die Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Gemeinde beeinflusst die Sozialqualität und trägt zu einer guten Gesundheit bei, was wiederum die Weiterentwicklung der Gemeinde ermöglicht.

So wurden administrative Merkblätter, Anleitungen und Vorlagen für die Organisation von Gesprächen und Sitzungen, thematische Merkkarten für das Bürgerengagement, Filme (über alle Etappen und Orte der Prozesskoordination), Artikel (gängige Medien und Forschung) usw. bereitgestellt. Alle diese Instrumente sind unter www.causecommune.ch frei zugänglich und können je nach Bedarf genutzt werden.

Was sind die grundlegenden Merkmale des Projekts?

Das auf sechs Jahre ausgelegte Projekt Cause commune ist 2019 angelaufen. Das Grundmotto des Projekts lautet: Partizipation für alle. Partizipation ist eine Quelle von Kreativität und Weiterentwicklung und ermöglicht die Bewältigung sozialer Herausforderungen durch soziokulturelle Massnahmen und Ansätze. Die Gemeinde soll die Menschen sanft und mit Leichtigkeit für eine gemeinsame Sache mobilisieren. Dieser Ansatz ist integrativ und generationenübergreifend. Die Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen zur Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Projekte ist anspruchsvoll. Cause commune hat sich daher von anerkannten partizipativen Praktiken in der Westschweiz inspirieren lassen, um grundlegende Hebel in ihrer Methodik zu identifizieren. So hat sich Cause commune an Projekte wie Quartiers solidaires von Pro Senectute Waadt, Contrats de quartier intercommunaux oder auch an Gesundheitsprojekte (Commune en santé) angelehnt. Dabei ist festzustellen, dass es unabhängig vom Alter Ähnlichkeiten zwischen allen Bevölkerungsgruppen gibt, wodurch sich Massnahmen zur sozialen Beteiligung wie auch der Wille zum gemeinsamen Projektaufbau für und mit der Bevölkerung verstärken lassen. Die Idee ist, partizipative soziokulturelle Aktivitäten zu fördern und deren Wirkung auf die Sozialqualität und die Gesundheit auszuwerten. Dies ermöglicht ein aktives Gremium aus Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung, der Gemeinde und der Forschung.

Welche Botschaft möchten Sie der Leserschaft im Hinblick auf die im Juni stattfindende Stakeholderkonferenz zur Stärkung der Schnittstellen zwischen Gesundheits- und Sozialwesen übermitteln?

Das Projekt belegt, dass die Bürgerbeteiligung ein wesentlicher Faktor zur Steigerung der Sozialqualität und auch zur Verbesserung der Gesundheit in der Bevölkerung ist. Die Ergebnisse von Cause commune beweisen dies, und das ist der entscheidende innovative Aspekt des Projekts.

Im Rahmen des Projekts wurde auch damit begonnen, bestimmte Einflüsse spezifischer Indikatoren oder auch Indikatorgruppen der Sozialqualität auf die Gesundheit zu untersuchen. 

Ganz allgemein zeigt das Projekt auch, dass alle Generationen trotz Altersunterschieden und Kohorteneffekten von partizipativen Prozessen profitieren, wenn auch nicht immer im gleichen Masse.

Gibt es konkrete Beispiele für Ergebnisse?

In sozialer Hinsicht entstanden im Quartier La Blancherie in einem ersten Schritt ein Dutzend Freizeitaktivitäten in einem neuen (dafür vorgesehenen) Gemeinschaftsraum. Gleichzeitig erfolgte dort eine umfassende Sanierung des städtischen Raums (neuer Platz mit Sport- und Freizeiteinrichtungen). In einem zweiten Schritt (2020–2021) ging man auf den Wunsch der Bevölkerung nach neuen Begegnungsstätten ein, indem man Jurten erwarb und an einem bis anhin ungenutzten Ort aufstellte. Seit ihrer Errichtung haben die Jurten diese Plätze neu belebt. Es wurden konkrete Anlässe organisiert: Lebensmittel- und Kunsthandwerksmarkt, Kaffee mit der Polizei, Leseclub und Konzertabende. Eine dritte Projektetappe ist bereits im Gange. Dabei werden etwa zehn Projekte von Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung, der Gemeinde und der Politik diskutiert.

Im Forschungsbereich wurde 2019 ein erster Bericht mit ersten überzeugenden Ergebnissen zur Wirkung der Programme publiziert. Diese Ergebnisse deuten auf eine starke Beteiligung der Bevölkerung hin. Bemerkenswert ist, dass der Fragebogen selbst bei Projektbeginn von der Universität und der Bevölkerung gemeinsam erstellt wurde, um relevante Informationen zu sammeln und die Wirkung der Aktivitäten auf die Sozialqualität zu analysieren. Die Sozialqualität umfasst Faktoren wie soziale und wirtschaftliche Sicherheit, sozialen Zusammenhalt, soziale Integration, Handlungsfähigkeit und potenzielle Gesundheitswirkung.

Dieser Ansatz stellt sicher, dass der Fragebogen über mehrere Jahre hinweg genutzt werden kann, um die Entwicklung und Wirkung des Projekts im Laufe der Zeit zu verfolgen (Längsschnittstudie). Die Teilnahmequote ist aufgrund der Rückläufe der Fragebögen sehr ermutigend, und die verschiedenen Akteure sind mit den ersten Ergebnissen sehr zufrieden. Die Konferenz wird auch Gelegenheit bieten, die gemeinsamen Bemühungen und die Ergebnisse aus den ersten beiden Etappen aufzuzeigen (die dritte Etappe wird erst 2024 abgeschlossen). Zudem fassen zwei Kurzberichte die ersten Ergebnisse der Umfragen (2019 und 2021, siehe Webseite von Cause commune) zusammen.

Die Methode ist nicht nur ein formelles Instrument für die Behörden, sondern ermöglicht auch eine Entwicklung, die allen im täglichen gemeinschaftlichen Leben zugutekommt. Sie bietet Möglichkeiten zur aktiven Betätigung im eigenen sozialen Umfeld, und zwar auf mehreren Ebenen: In individueller oder persönlicher Hinsicht können die Menschen ihre eigene Zukunft aktiv mitgestalten, und gleichzeitig arbeiten sie kollektiv an der Weiterentwicklung ihres Quartiers. Durch diesen Ansatz wird die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen dem Sozial- und dem Gesundheitswesen klar ersichtlich.

Und schliesslich: Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Projekts Cause commune?

Ich wünsche mir, dass der Wille besteht, die partizipativen Projekte in der Gemeinde Chavannes-près-Renens weiterzuführen und neue entstehen zu lassen. Schön wäre auch, wenn andere Schweizer Gemeinden ähnliche Programme lancieren würden, damit die geschaffenen Instrumente auf verschiedenen Ebenen getestet werden können. Dieser Ansatz bietet eine solide, bewährte Grundlage zur Koordination folgender Bereiche:

- politische Ziele   
- partizipatives Engagement von Bürgerinnen und Bürgern aller Generationen
- Sozialarbeit
- Forschung im akademischen Bereich 

Es wäre grossartig, eine Plattform als Trägerin des Projekts zu schaffen, damit dieses grossflächiger verbreitet und ähnliche Schritte in verschiedenen anderen Schweizer Gemeinden eingeleitet werden können. So lassen sich die Ergebnisse miteinander vergleichen und die spezifischen Auswirkungen sozialer Massnahmen auf die Lebensqualität und damit auch auf die Gesundheit noch besser erkennen.

Kontakt

Lucia Camenzind,
Sektion Präventionsstrategien,

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