Sprunglinks

zurück

Substanzkonsum bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung

Menschen mit Behinderungen weisen ein höheres Risiko für problematischen Suchtmittelkonsum auf als die übrige Bevölkerung. Die Behandlung und Beratung von kognitiv beeinträchtigten Menschen mit einer Suchterkrankung sind komplex. Joanneke van der Nagel, eine Expertin für das Thema Behinderung und Sucht, hat bei einem Schweizer Pilotprojekt mitgeholfen, Hilfestellungen für diese herausfordernde Behandlung und Beratung zu entwickeln. Im Interview erzählt sie von ihren Erfahrungen.

Frau van der Nagel, Sie befassen sich schon länger mit der Schnittstelle zwischen Sucht und kognitiver Beeinträchtigung. Welches sind die besonderen Herausforderungen in Bezug auf die Prävention, auf die Früherkennung und auf die Behandlung?

Das grundsätzliche Problem liegt in der Schwierigkeit, Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und mit Suchtverhalten zu beraten. Erkenntnisse aus diesen Bereichen sind sehr unterschiedlich und in unserem Fall müssen wir sie kombinieren. Es handelt sich um zwei getrennte Fachbereiche, die noch lernen müssen, zusammenzuarbeiten. Auch gibt es bisher nur wenige Fachleute, die sich in beiden Bereichen auskennen. Diese Faktoren machen die Zusammenarbeit umso schwieriger. Das Wichtigste ist, dass der Wille der beiden Bereiche da ist, das Problem gemeinsam zu lösen.

Welche Schwierigkeiten bringen Menschen mit einem Suchtverhalten und einer kognitiven Beeinträchtigung auf der persönlichen Ebene mit sich?

Das ist eine interessante, aber komplizierte Frage, denn es handelt sich um eine heterogene Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Besonderheiten und vielen Stressfaktoren, zum Beispiel einem niedrigen Einkommen. Bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung gibt es eine Reihe von Risikofaktoren für Substanzkonsumstörungen, wie auch ein niedriger sozialer Status, Traumata oder ein mangelnder Zugang zur Versorgung. Dazu kommt: Eine kognitiv beeinträchtigte Person sieht die möglichen Risiken einer Sucht oft nicht und kann Situationen schlecht einschätzen.

Ich hatte mal eine Patientin, die mir gesagt hat: «Ja, aber 20 Gläser Bier trinken an einem Tag ist doch normal. Alle meine Freunde trinken so viel». Sie hat mir erzählt, dass sie sich oft in Situationen befinden würde, in welchen es normal sei, viel zu trinken. Zum Beispiel an einem Fussballmatch. Was ihr nicht klar war: Ihre Kollegen trinken nicht alle 20 Bier täglich. Sie meinte, es sei normal und verstand das Problem nicht. Manche Leute wissen, dass es nicht gesund ist und dass es Risiken gibt. Andere haben wenig Ahnung davon. Das ist das Dilemma: Allgemein sind bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung mehr Risikofaktoren vorhanden, sie haben aber auch weniger Kenntnisse über das Thema. Das macht es herausfordernder, diese Patienten zu beraten und zu managen.

Sie leiten das Zentrum für Sucht und kognitive Beeinträchtigungen der holländischen Stiftung Tactus. Wie sind die Therapien bei Tactus aufgebaut?

Unsere Therapien sind oft kognitive Verhaltenstherapien. Sie zielen darauf ab, dass unsere Patienten verstehen, was wir machen und dass sie auch darüber nachdenken und darauf reagieren können. Das Herausfordernde ist, dass diese Gruppe von Menschen eine angepasste Behandlung benötigt. Mit kleineren Übungen und mehr Aufmerksamkeit. Sie sind sehr klug und denken anders als der Durchschnitt. Die Therapeuten müssen ihr Vokabular und ihre Methoden anpassen. Beispielsweise darf nicht zu viel aufs Mal kommuniziert werden und die Wörter müssen eher simpel gehalten werden.

Für diese Patienten haben wir das Tool SumID entwickelt, das auf Niederländisch, Flämisch, Dänisch, Deutsch sowie Französisch existiert. Denn die regulären Screening-Instrumente sind für unsere Patienten meist zu direkt, mit Fragen wie «Konsumierst du Alkohol? Wie viel, wie oft, unter welchen Umständen?». Das ist problematisch, da manche Leute mit einer kognitiven Beeinträchtigung denken, dass beispielsweise mit Alkohol nur Spirituosen gemeint sind. Ihre Antwort wäre darum vielleicht «Nein, ich konsumiere keinen Alkohol», obwohl sie täglich Bier trinken. Dazu kommt, dass sie sich eventuell schämen, über das Thema zu sprechen.

Könnten Sie etwas erläutern, wie dieses Tool SumID funktioniert?

Es ist ein Kartenset mit Fotos von Suchtmitteln, zu denen wir jeweils Fragen stellen. Für jede Substanz haben wir eine Liste mit Fragen entwickelt. Zum Beispiel zeigen wir dem Patienten eine Packung Zigaretten und fragen «Was ist das»? Auf dem Bild ist der Name der Zigarettenmarke absichtlich ausgeblendet. Wenn der Patient erkennt, dass es sich um eine Packung Marlboro Zigaretten handelt, wissen wir, dass er sich zumindest mit dem Thema auskennt oder vielleicht auch selber raucht. Als nächstes würden wir fragen, ob es sich hier um ein Suchtmittel handelt und ob der Patient Menschen in seinem nahen Umfeld kennt, die diese Substanz konsumieren. Erst danach werden wir mit unseren Fragen konkreter. Die Überwindung ist so kleiner, darüber zu sprechen. Die SumID-Methode bietet einen guten Ausgangspunkt, um über das Thema Sucht zu reden und um aufzuklären, welche Probleme vorhanden sind oder entstehen könnten. Anhand eines Ampelmodells stufen wir das Suchtstadium der Patienten ein und entwickeln falls nötig die passenden Massnahmen.

Haben Sie begleitende Massnahmen auf struktureller Ebene etabliert?

Ja, wir haben eine Methode für Patienten entwickelt, die nur ein leichtes Suchtproblem haben. Für sie gibt es eine Gruppentherapie und zusätzlich einmal pro Woche ein individuelles Gespräch mit einer Begleitperson von der Behindertenhilfe.

Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie in dieser Schnittstelle zwischen Sucht und Behinderung?

Kürzlich hatten wir bei uns im Team «Virtual Reality» zum Thema und wie wir eine VR-Brille im Rahmen unserer Suchtmittel-Behandlungen einsetzen könnten. In einem neuen Projekt testen wir dies nun aus. Denn es ist für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung sehr hilfreich, ein externes Medium zu haben. Dank der virtuellen Brille können sie Situationen erleben, darauf reagieren und auch Gefahren besser einschätzen.

Eine der Patientinnen, welche die Brille angezogen hat, hat die virtuelle Welt in Bezug auf das Ausmass ihrer Tabaksucht getestet. Diese Patientin war bei uns auch wegen ihrer Alkoholkrankheit in Behandlung. Sie war der Meinung, bereit zu sein, die Klinik zu verlassen, da sie seit mehreren Wochen abstinent war und kein Verlangen verspürte. Die Brille hat ihr unter anderem ein Szenario gezeigt, in welchem eine Bar vorkam. Die Konfrontation mit dem Tresen hat in ihr ein starkes Verlangen ausgelöst - was für sie völlig unerwartet war.

Das virtuelle Erlebnis ist viel stärker als ein Gespräch. Die virtuelle Welt eignet sich darum sehr gut, um die Resilienz zu testen und zu üben. Sie ist intensiver. Auch für Therapeuten ist das Erlebnis ganz anders, weil sie sehen können, was mit den Menschen geschieht und wie sie darauf reagieren.

Projekt «Collaboration Handicap et Addictions»

Im Rahmen der NCD-Strategie unterstützen Gesundheitsförderung Schweiz in Zusammenarbeit mit dem BAG Projekte zur Prävention in der Gesundheitsversorgung. Dazu gehörte das Projekt «Collaboration Handicap et Addictions» aus Genf, welches auch vom Alkoholpräventionsfonds unterstützt wurde. Joanneke van der Nagel hat das Projekt als Expertin begleitet.

Mit diesem Projekt wurden erstmals in der Schweiz die Grundlagen für eine langfristige Zusammenarbeit zwischen den Bereichen Behinderung und Sucht geschaffen. Entstanden ist auch eine Website:

https://handicaps-addictions.ch/

Weitere Informationen zum Projekt:

Projekt «Collaboration Handicap et Addictions» | GFCH (gesundheitsfoerderung.ch)

Joanneke van der Nagel ist Psychiaterin und arbeitet mit Menschen mit Doppel- oder Dreifachdiagnosen: Patienten mit Drogenabhängigkeit, anderen psychiatrischen Erkrankungen, kognitiven Beeinträchtigungen und/oder forensischen Problemen. Sie arbeitet mit zwei Forschungsgruppen in den Bereichen kognitive Beeinträchtigung und Substanzkonsumstörungen zusammen, mit den Schwerpunkten Behandlungsprogramme und eHealth-Interventionen. Van der Nagel leitet ausserdem das Zentrum für Sucht und kognitive Beeinträchtigungen der Stiftung Tactus.

Joanneke van der Nagel

https://www.tactus.nl/person/joanneke-van-der-nagel/ (auf Niederländisch) https://www.tactus.nl/centrum-verslaving-lvb/

Kontakt

Thomas Siegrist
Sektion Prävention in der Gesundheitsversorgung

Nach oben