«Nach zehn Sekunden kommt eine Welle, als würde die Seele in ein warmes Bad steigen.»
Sep. 2014Quality of life in old age
Eine Begegnung mit Dominik Wyttenbach (Name von der Redaktion geändert), 38, der seit fünf Jahren im Solina in Spiez lebt. (siehe Hauptartikel Seite 4)
«Aufgewachsen bin ich in Bern. Meine Mutter arbeitete. So wurde ich zuerst im Waisenasyl zur Heimat und mit zwölf in der Notaufnahmegruppe untergebracht. Ich flog dann von verschiedenen Schulen, schaffte aber dennoch den Sekundarabschluss und machte eine Gärtnerlehre. Als Jugendlicher hab ich einigen Blödsinn gebaut, kiloweise Hasch gedealt und fünf Autos geklaut. Damals lebte ich in einer WG, trug Dreadlocks, war auch in der Rasta-Sekte «12 Stämme Israels». Wir zogen herum und machten Discos in der ganzen Schweiz und auch in Deutschland.
Ich habe stets gearbeitet und meine Steuern bezahlt. Als Gärtner arbeitete ich nur ganz am Anfang, dann in verschiedenen anderen Berufen, in einer Bäckerei und bei einem Boilerhersteller. Ich hatte auch verschiedene Freundinnen. Durch eine von ihnen geriet ich an die harten Drogen. Ich fing an, Heroin zu rauchen, dann zu schnupfen und am Ende habe ich es gespritzt. Da war ich schon etwa 30 Jahre alt. Ich lebte nie auf der Gasse, sondern hatte stets eine eigene Wohnung. Ich landete rasch in der Koda, dem Heroinverschreibungsprogramm in Bern, und wegen meiner gesundheitlichen Probleme dann hier im Solina.
Mit 32 hatte ich einen Unfall. Ich bin auf dem Glatteis ausgerutscht und habe mir wegen meiner Osteoporose das linke Becken gebrochen. Ein paar freundliche Jugoslawen haben mich in meine Wohnung getragen. Leider ist das Ganze nie richtig verheilt. Lange bin ich an Krücken gegangen, aber nun sitze ich im Rollstuhl. Bald bekomme ich ein neues Hüftgelenk, dann kann ich hoffentlich irgendwann wieder laufen.
Ich mache hier im Solina doch recht viel. Viermal pro Woche arbeite ich in der Werkstatt, begleite den Personalchor und das Dienstagssingen auf der Gitarre und am Mittwochmorgen gehe ich ins Zeichnen. Hier sind ein paar meiner Zeichnungen – Fantasy- und Comicgestalten, Drachenköpfe, Porträts von Mitbewohnern hier im Heim. Der hier, der ist gestorben. Morgens und abends esse ich in der Wohngruppe im ersten Stock. Am Mittag geh ich in die Cafeteria, da gibts drei Menüs zur Auswahl – und den Wochenhit. Meistens ist es sehr gut, aber man merkt schon, welcher Koch gerade Dienst hat.
Ich hatte eine Reggae-Band namens Upkeepers, spielte Bass und Schlagzeug, später habe ich auch noch das Gitarrenspiel gelernt, heute habe ich etwa 50 Lieder im Repertoire. Auf der E-Gitarre spiele ich Heavy Metal. Solange die Zimmertüre zu ist, kann ich die Musik auch aufdrehen. Meine ehemaligen Bandkollegen besuchen mich ab und zu. Der Keyboarder ist Lehrer, hat ein Haus, eine Frau, ein Auto. Das sind die Pfeiler unserer Gesellschaft, aber ich für mich selber habe einen anderen Lebensweg gewählt. Ich möchte keine Kinder. Denn Kinder sollten keinen drogenabhängigen Vater haben.
Ich hatte grosse psychische Probleme. Weil ich in einer Zeit, als ich Nachtschicht arbeitete, zu viel LSD erwischte und dazu Haschisch rauchte, entwickelte ich eine Psychose und hörte Stimmen. Man diagnostizierte eine paranoide Schizophrenie und ich bekam eine Invalidenrente.
Ich habe gekifft, bevor ich mit dem Rauchen angefangen hab. Wir sind so komplexe Wesen, jeder Einzelne hat eine eigene Struktur der Psyche, nicht bei jedem ist es die gleiche Einstiegsdroge. Ich beispielsweise habe mit dem Zigarettenrauchen mit elf angefangen, durch meinen Bruder, der zwei Jahre älter ist. Wir sind als Buben ins Altersheim eingebrochen, das bei uns im Tscharnergut gleich um die Ecke stand. Wir sind aufs Dach gestiegen, haben die Sterne angekuckt und zum ersten Mal einen Joint geraucht.
Drogen sind uns von der Natur gegeben, um unser Bewusstsein zu erweitern. Man kann sie als Helfer dafür benutzen, aber darf sie nicht missbrauchen. Wenn man sie für eine Flucht benutzt, dann schlägt es auf einen zurück. Ich habe auch magische Pilze genommen, das wirkt wie LSD und kann eine spirituelle Erfahrung ermöglichen. Auch wenn hier in meinem Zimmer ein kleiner Buddha steht – ich bin Synkretist und nehme mir aus jeder Religion, was ich will.
Manche sagen, Drogen zu konsumieren sei Selbstmord auf Raten. Aber sich das Leben zu nehmen ist, etwas vom Schlimmsten. Denn da geht die Seele an einen dunklen Ort. Es kommt immer auf das Mass an. Wie schon Paracelsus gesagt hat: Ob etwas Gift ist oder nicht, entscheidet die Dosis. In der Schöpfung ist überall ein Stachel drin. Jede Rose hat ihre Dornen, in allem Guten schlummert auch etwas Giftiges – Yin und Yang. Ich will ja mal nicht zu viel sagen bei meiner eigenen Dosis, aber ich bekomme reinen Stoff. Die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss hat sich mit wissenschaftlichen Studien abgesichert. Reines Heroin ist nicht toxisch und hat auch langfristig keine gesundheitsschädigenden Folgen.
Ich möchte meine Dosis nicht reduzieren. Auf das wunderschöne Erlebnis fünfmal täglich möchte ich nicht verzichten. Ich hatte immer Glück. Habezum Beispiel noch nie einen Entzug gemacht, ich weiss nicht, wie das ist. Alle sechs Monate gibts einen runden Tisch, wo alle zusammensitzen. Da besprechen wir die ganze Situation und auch die Finanzen. Ich habe keine Schulden, sogar noch 20 000 Franken Gespartes auf der Seite, habe nicht alles Geld für Drogen verbraucht.
Nun lebe ich seit fünf Jahren hier – und auch in fünf Jahren möchte ich hier sein, denn ich habe hier alles, was ich brauche. Hier werde ich umsorgt, es herrscht eine gute Atmosphäre. Ich habe mein Diaphin, eine Beschäftigung, zu essen, ein Dach über dem Kopf und ich fühle mich wohl. Auch mein Beistand begrüsst es, wenn ich weiterhin hier lebe. Es gibt ein paar lose Freundschaften mit Bewohnern im Heim. Manchmal musiziere ich mit einem aus dem zweiten Stock, der Geige spielt. Ich möchte in den Ferien nicht mit dem Heim ans Meer fahren. Ich habe genug Meer gesehen, war sogar in Jamaica. Und ausserdem darf man das Diaphin nicht über die Grenze mitnehmen.
Meine Mutter besucht mich jede Woche und bringt mir Tabak mit. Wir haben ein gutes Verhältnis und auch zu meinem Bruder habe ich guten Kontakt. Er ist ebenfalls heroinabhängig, aber er arbeitet noch. Sonst sind alle Familienmitglieder tot – mein Vater wurde ermordet, als ich 16 war und gerade in der Lehre war. Das hat mich sehr mitgenommen, auch wenn meine Eltern geschieden waren, weil mein Vater schwerer Alkoholiker war.
Ich habe jeden Tag für 20 Franken Heroin gekauft, bevor ich ins Heroinverschreibungsprogramm kam. Das reichte für zwei Schüsse. Da man nie wusste, wie sehr der Stoff gestreckt ist, ist es manchmal fantastisch eingefahren, manchmal nur wenig und manchmal auch zu sehr – einmal bin ich für fünf Stunden erblindet wegen dem Dreck im unreinen Gassenheroin. In der Koda bekam ich dann 70 mg pro Mal, heute 80 mg, fünfmal am Tag.
Die Pflegerinnen bringen mir die Spritze ans Bett und ich injiziere das Diaphin selber. Vorher wird mein Blut getestet und ich muss einen Alkoholtest machen, der Grenzwert liegt bei 0,8 Promille. Aber meistens bin ich bei Null, denn ich trinke fast keinen Alkohol. Das Diaphin wirkt sehr beruhigend – ein Mäntelchen für die Seele. Ich muss langsam spritzen, damit mir nicht schlecht wird. Das Flash dauert nur ganz kurz. Nach zehn Sekunden kommt eine Welle, als wenn die Seele in ein warmes Bad steigt, man ist vollkommen entspannt, erfüllt von Euphorie und Harmonie. Die Wirkung flaut nach zehn Minuten ab. Ich bekomme Diaphin um sechs Uhr morgens, um Viertel vor neun, um Viertel nach zwölf, um Viertel vor fünf und um Viertel vor acht. Als Musiker hab ich früher ganze Nächte durchgejammt, heute gehe ich stets früh ins Bett, um zehn schlafe ich bereits. Und jetzt muss ich eine rauchen und nachher zum Duschen. »