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Herausforderungen bei der Ausbildung von Fachleuten im Suchtbereich

Ausgabe Nr. 112
Mär. 2016
Drogenpolitik international

Zum Abschied von René Stamm. Nach 25 Jahren in der Sektion Drogen des Bundesamts für Gesundheit trat René Stamm Ende Dezember 2015 in den Ruhestand. Unter den vielen Projekten und Tätigkeitsfeldern, in denen er sich während dieses Vierteljahrhunderts engagierte, ragen zwei heraus: die Qualität und die Ausbildung im Suchtbereich. René Stamm war auch Mitglied der Redaktionskommission von «spectra» und hat zum Abschied folgenden Text verfasst.

Am Anfang gab es nichts, oder fast nichts! Das GREAT (Groupement romand d’étude de l’alcoolisme et des toxicomanies) – wie es damals hiess – hatte in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg eine erste Ausbildung für Suchtfachleute ausgearbeitet. Die Schule für Sozialarbeit in Aarau ihrerseits bot einen Kurs zum Thema Alkoholabhängigkeit an.

Der Anfang fiel auf das Jahr 1991, als das erste Massnahmenpaket zur Reduzierung der Drogenprobleme (MaPaDro) lanciert wurde. Dieses umfasste Aktivitäten in verschiedenen Bereichen, die alle zusammen eine umfassende Strategie bildeten, eine Antwort auf die schreckliche Epidemie der Heroinabhängigkeit, die sich in den 1980er-Jahren entwickelt hatte. Eine der Massnahmen war explizit der Ausbildung gewidmet. Die Herausforderung bestand darin, suchtspezifische Kenntnisse und Fertigkeiten zu entwickeln und zu verbreiten. Die Fachleute, die damals auf diesem Gebiet arbeiteten, hatten einzig die Kenntnisse aus ihrer Grundausbildung in den Bereichen Sozialarbeit, Medizin, Psychologie oder Pflege in ihrem beruflichen Rucksack. Suchtspezifische Weiterbildung gab es nur in Frankreich oder Deutschland. Dazu gab es noch den einen oder anderen kleinen Kurs oder thematischen Tag hier und dort, organisiert von den Suchtfachverbänden. Das war damals alles, was dem Suchtbereich an Weiterbildung zur Verfügung stand.

Wenig Anerkennung für die Suchthilfe

Im Rückblick erstaunt es doch, dass ein Tätigkeitsfeld, das für die Betreuung einer beträchtlichen Anzahl Menschen zuständig war (zählt man alle Suchtformen zusammen), so lückenhafte Aus- und Weiterbildungsangebote hatte. Die Antwort auf dieses seltsame Phänomen findet sich, erlauben Sie mir diese Hypothese, in der geringen Anerkennung des Suchtbereichs in der Berufslandschaft und der akademischen Welt. Die einzigen Körperschaften, die das Problem bewusst wahrnahmen, waren die Subkommission Drogen der Eidgenössischen Betäubungsmittelkommission, die die Notwendigkeit der Ausbildung von Fachleuten erkannte hatte, sowie die spezialisierten Fachverbände GREAT und VSD (Verein Sucht- und Drogenfachleute Deutschschweiz), weil sie an der Front mit den Herausforderungen direkt konfrontiert waren.

Die zwei Fachverbände waren es denn auch, die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) mit der Entwicklung eines Weiterbildungsangebotes beauftragt wurden. Entstanden ist ein Ausbildungszentrum in der Deutschschweiz, Convers, und ein Lehrgang für die Ausbildung in der französischen Schweiz, ARIA. Aber eine grundlegende Frage stand hinter diesen Initiativen: Ergaben die verschiedenen Aktivitäten unter dem Banner der Suchthilfe ein eigenes Berufsbild? Hinter dieser Frage verbirgt sich ohne Zweifel die grosse Schwäche dieses Tätigkeitsfeldes: Es liegt transversal zwischen mehreren Berufsdisziplinen. Diese Frage führte zu heftigen Diskussionen in der ersten Expertenkommission, die 1996 ins Leben gerufen wurde, um diesem aufstrebenden Bereich einen Sitz und eine grössere Legitimität zu verleihen. Auf Initiative ihres Präsidenten, Prof. Karl Weber, eines Spezialisten der Bildungssoziologie, hat die Kommission diese Frage verneint.  

Nur interdisziplinäre Zusammenarbeit bringt Erfolg

Also wurde durch die Kommission ein relativ umfangreiches System für die Finanzierung von Ausbildungsangeboten in den drei nichtmedizinischen Berufsgruppen geschaffen, während der medizinische Bereich eine eigene Entwicklung vollzog, auf die wir später näher eingehen werden. Dieses von seiner Grundidee theoretisch kohärente System war aber unfähig, eine weitere zentrale Frage zu beantworten: Wie kann ein Ausbildungssystem, das zwischen den Berufsgattungen dermassen zersplittert ist, förderliche Rahmenbedingungen für die unerlässliche interprofessionelle Zusammenarbeit schaffen? Bedenkt man nämlich das Gewicht der jeweiligen Berufskultur, die bei der Lösung jedes Problems mit hineinspielt, überrascht die zwingende Notwendigkeit für ein gemeinsames Verständnis des Phänomens Sucht und die gegenseitige Anerkennung jedes spezifischen Beitrags der jeweiligen Berufe im Behandlungs- und Betreuungsprozess kaum. Trotz fehlender solider konzeptioneller Grundlagen zu diesem Thema hat sich ein Konsens zwischen den Fachleuten etabliert, basierend auf den generellen Zielen der Viersäulenpolitik, den neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der gegenseitigen Achtung der Berufsgruppen – die Frucht der Erkenntnis, dass nur Zusammenarbeit Erfolg verspricht. Die Ausbildung hat durch die Schaffung von interdisziplinär gestalteten Kursen zum Konsens beigetragen. Dabei hat die Fordd (Fédération romande des organismes de formation dans le domaine des dépendances) in der französischen Schweiz eine Pionierrolle gespielt.  

Verankerung im Bildungssystem

Mit dem Aufbau der Fachhochschulen und der Strukturierung der Ausbildung nach dem Bologna-Modell war es endlich möglich, Kurse im Bereich Sucht im allgemeinen Bildungssystem zu verankern. Damit ist es gelungen, das Suchtthema aus seiner sozietalen Marginalisierung zu befreien, in die es immer wieder abzusinken droht.

25 Jahre nach der Lancierung des ersten MaPaDro darf man sagen, dass dank der finanziellen Unterstützung des BAG ein solides Aus- und Weiterbildungsangebot für Fachleute aus dem Suchtbereich besteht.

Was ist der nächste Schritt? Die professionelle Zusammenarbeit, die eine wesentliche Voraussetzung für eine effektive Behandlung von abhängigen oder suchtgefährdeten Personen ist, betrifft nicht nur die Fachleute in spezialisierten Institutionen. Sie erstreckt sich auf eine grosse Anzahl von punktuell betroffenen Berufsleuten. Denken wir nur an das Pflegepersonal von Spitex, Akutspitälern und psychiatrischen Kliniken oder an Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung, RAV-Beraterinnen und -Berater, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in Gemeinden, Gefängnispersonal, Jugendgerichte, Polizei usw. Alle diese Fachleute treffen mehr oder weniger regelmässig auf Menschen mit Suchtproblemen oder -gefährdung. Die zentrale Frage, die sich dabei stellt: Wie kann der Aspekt «Sucht» im beruflichen Kontext einer oder eines jeden von ihnen angegangen werden? Von der Antwort auf diese Frage hängt die Wirksamkeit ihrer Arbeit ab. Das ist eine echte Herausforderung für diese Fachleute, weil sie durch ihre Grundausbildung wenig darauf vorbereitet sind, und es ist ihnen oft ein wenig unangenehm, wenn sie in ihrer täglichen Arbeit Personen begegnen, zu deren generellen Problemen das Thema Sucht hinzukommt.  

Eine Herausforderung für die Strategie Sucht ...

Aber es ist auch eine Herausforderung für die künftige Strategie Sucht, welche sich einer neuen langfristigen Baustelle gegenübersieht: Sie muss das Bewusstsein bei den verschiedenen betroffenen Stellen in diesen Bereichen – Verwaltung, Ausbildung oder Berufsverbände – wecken, und den punktuell betroffenen Fachleuten die minimal erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Bewältigung von Suchtaspekten in ihrer täglichen Arbeit vermitteln. Zwei Stufen der Ausbildung gilt es zu berücksichtigen: die Grundausbildung in der Sozialarbeit, Psychologie, Krankenpflege und Medizin sowie ihre Fort- und Weiterbildung.  

... und die Medizin

Der medizinische Bereich ist von den Suchtproblemen besonders betroffen, namentlich die Hausärztinnen und Hausärzte und die Psychiatrie. Das BAG verfolgte hier eine andere Strategie, um der besonderen Struktur seines Bildungssystems Rechnung zu tragen. Es widmete sich zunächst der Fortbildung der Hausärztinnen und Hausärzte, indem es die regionalen Netzwerke für Suchtmedizin finanziell unterstützte: COROMA in der Westschweiz, FOSUMOS, FOSUMIS und FOSUM-NWCH in der Deutschschweiz. Nun hat das BAG Ressourcen in eine zweite Baustelle investiert, diejenige der medizinischen Grundausbildung. Es beauftragte die Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin (SSAM) mit der Entwicklung eines Ausbildungskonzepts für Suchtmedizin, um es den medizinischen Fakultäten zu ermöglichen, ihren Unterricht zum Thema zu harmonisieren. Suchtmedizin selbst ist eine transversale Disziplin, deren Umfang abgegrenzt werden muss.

Unabhängig vom BAG hat sich die SSAM im Bereich der postgradualen Ausbildung stark engagiert, um den Status der Suchtmedizin im weiten Feld der medizinischen Disziplinen zu verbessern. Sie erreichte, dass Sucht als Schwerpunkt in der Psychiatrie und Psychotherapie anerkannt wird, und sie wird einen Antrag an das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung stellen, um ein ergänzendes, transversales Fortbildungsprogramm mit Fähigkeitsausweis zu entwickeln.

Lang war der Weg, um den transversalen Suchtbereich im schweizerischen Bildungssystem zu verankern. Noch wird auf der Baustelle gearbeitet, aber die Fundamente sind gelegt. Es gehört zu den Aufgaben der Strategie Sucht, das Erreichte zu konsolidieren und weiter am Gebäude zu bauen.  

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