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«Adipositas ist eine Erkrankung des Gehirns, für die die Betroffenen nichts können»

Ausgabe Nr. 140
Mär. 2024
Adipositas bekämpfen

Adipositas entsteht nicht, weil die Betroffenen zu viel essen – die Betroffenen essen zu viel, weil sie an Adipositas erkrankt sind, sagt Katharina Timper, Professorin der Endokrinologie und Leiterin der Adipositas-Sprechstunde des Universitätsspitals Basel sowie Forschungsgruppenleiterin von «Obesity Research» am Departement Biomedizin der Universität Basel.

Frau Timper, wie entsteht eine Adipositas-Erkrankung?

Adipositas ist eine multifaktorielle, chronische Erkrankung. Bei der Entstehung spielen genetische und epigenetische, psychosoziale Faktoren und Umweltfaktoren eine Rolle. Vor allem ist Adipositas aber eine Erkrankung des Gehirns. Die genetischen und epigenetischen Veränderungen führen zu Fehlregulationen des Hunger- und Sättigungsgefühls. Was man sich klar machen muss: Adipositas ist nicht die Folge von zu viel essen, sondern zu viel essen ist die Folge von Adipositas.

Was bedeutet das konkret?

Es gibt drei Dimensionen der Nahrungsaufnahme. Auf der biologischen Seite wird das Hungergefühl über Darmhormone reguliert – man isst wegen Hunger. Die psychologische Seite wird einerseits kontrolliert durch Dopamin, das die Motivation zum Essen steuert, und durch Opioid- und Cannabinoid-Rezeptoren, welche die Freude am Essen vermitteln. Und dann gibt es noch die Exekutiv-Funktion, also die Entscheidung zum Essen. Diese Dimension könnte man unter «Lifestyle» subsummieren. Die Forschung zeigt klar, dass die Exekutiv-Funktion die schwächste Dimension der Nahrungsaufnahme ist – im Zweifel wird sie von der biologischen und psychologischen Dimension übersteuert.

Wie erklären Sie sich, dass die Anzahl Betroffener immer weiter steigt?

Wir wissen, dass die Ausprägung von Genen bis zu einem gewissen Grad vererbt wird: Das Risiko für Adipositas beim Kind steigt stark an, wenn die Mutter und der Vater Adipositas haben. Aber auch die Ernährung spielt eine Rolle: Das Gehirn und die biologischen Abläufe im Gehirn können fehlgeleitet werden durch die Nahrung, die zugeführt wird. Das haben Kolleginnen und Kollegen aus Köln in sehr eleganten Studien kürzlich gezeigt. Die Nahrungsmittelindustrie ist leider noch immer ganz klar darauf ausgelegt, dass die Menschen mehr konsumieren, und nicht darauf, die Bevölkerung ausgewogen und gesund zu ernähren.

Wie könnte man dem als Gesellschaft entgegenwirken?

Analog zur Tabakwerbung bin ich dafür, dass auch die Werbung für Nahrungsmittel reguliert wird, um Kinder vor der Beeinflussung der Industrie zu schützen. Ein anderer Ansatz ist, eine ausgewogene und gesunde Ernährung bereits im Kita-, Kindergarten- und Schulsetting zu fördern. Und die Freude an der Bewegung muss früh vermittelt werden. Hier wäre aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt, die Noten im Schulsport abzuschaffen. Denn wenn Kinder Ausgrenzung und Stigmatisierung erleben, wenn sie nicht besonders gut sind im Sport, werden sie es im zukünftigen Leben vermeiden, weiter Sport zu treiben – auch in ihrer Freizeit.

«Die Freude an der Bewegung muss früh vermittelt werden», so Prof. Katharina Timper.

Sie sprechen die Stigmatisierung und Ausgrenzung an. Wie erklären Sie sich, dass Menschen mit Adipositas die Schuld für ihre Erkrankung zugeschrieben wird, während dies bei anderen Krankheiten wie zum Beispiel Krebs weniger geschieht?

Stigmatisierung und Abwertung von Menschen, die mit Adipositas leben, ist ein ganz zentrales Thema für mich. Ein Grund ist hier sicher, dass viele Menschen noch immer fälschlicherweise glauben, dass unser Gewicht rein durch den eigenen Willen gesteuert werden kann. Der Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas kann man nur entgegenwirken, indem man die Menschen darüber aufklärt, dass es sich bei Adipositas um eine Krankheit handelt, wobei biologische Veränderungen im Gehirn dazu führen, dass das Hunger- und Sättigungsgefühl gestört ist. Die Ursachen sind also biologische Veränderungen, analog zu Krebserkrankungen, für die Betroffene nichts können.

Warum ist die Stigmatisierung von Adipositas so problematisch?

Weil sie sowohl Folge als auch Ursache von Adipositas ist. Die externe Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas auf allen Ebenen des Lebens verstärkt psychische Erkrankungen, emotionales Essverhalten oder Essen als Coping-Strategie. Sie führt aber auch zu physischen Reaktionen, zum Beispiel dem Anstieg von Stresshormonen, was wiederum die Adipositas verstärkt. Als Folge werden es Betroffene immer mehr vermeiden, sich öffentlich mit ihrem Mehrgewicht zu exponieren, etwa im Setting eines Fitnessstudios. Mit der Zeit kommt es zu einer Internalisierung dieser Stigmatisierung, das heisst, die Personen schreiben sich die Schuld selbst zu und werten sich selbst ab.

Sie sind alltäglich mit Patientinnen und Patienten, die mit Adipositas leben, im Kontakt. Was brauchen diese Patienten am meisten?

Das Wichtigste ist, dass man klarstellt, dass sie eine Erkrankung haben, für die sie nichts können. Weiter braucht es eine gute Anamnese, die auch Begleiterkrankungen wie emotionales Essverhalten, Essstörungen, aber auch psychische Erkrankungen einschliesst, die dann durch Spezialisten behandelt werden müssen. Weiter benötigen sie eine spezifische, individuell abgestimmte, multimodale Therapie, wie eine medikamentöse Behandlung oder die bariatrische Chirurgie, mit einer begleitenden Ernährungsberatung und einem angeleiteten Trainingsprogramm. Wichtig dabei ist: In den allermeisten Fällen ermöglicht erst die spezifische Therapie durch Medikamente oder Bariatrie die notwendigen Lebensstil-Änderungen. Denn durch die Behandlung kommt es zu biologischen Veränderungen im Gehirn, sodass die Patientinnen und Patienten schneller satt sind, sich anders, ausgewogener ernähren möchten und zum Beispiel weniger Verlangen nach Süssem verspüren. Viele berichten von einer grossen Entspannung, die sie in Bezug auf das Thema Ernährung erleben. Und: Sie bekommen ein ganz anderes Körpergefühl und haben wieder Freude an körperlichen Aktivitäten.

Sie sprechen die neuen Adipositas-Medikamente an. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

Wir sind sehr froh, dass wir endlich wirksame Medikamente haben für die Therapie der Adipositas. Die Vergütung ist für uns allerdings mit einem grossen administrativen Aufwand verbunden, weil es immer ein schriftliches Kostengutsprachegesuch braucht, um die Behandlung beginnen und im Verlauf weiterführen zu können. Und die Kosten werden im Verlauf nur dann weiter übernommen, wenn ein definierter Prozentsatz des Gewichtsverlusts in einer bestimmten Zeit erreicht wird. Hinzu kommt, dass die Vergütung bis anhin auf drei Jahre befristet ist. Bei Adipositas handelt es sich aber um eine chronische, lebenslange Erkrankung: Wenn wir die Therapie stoppen, steigt das Gewicht wieder an und die Begleiterkrankungen kommen zurück. Bei der Krebserkrankung würde ja auch niemand auf die Idee kommen, eine erfolgreiche Therapie nach drei Jahren zu stoppen.

Langfristig haben wir auch rein ökonomisch gesehen keine andere Wahl, als allen Betroffenen Zugang zu wirksamen Therapien zu verschaffen, weil Folgeerkrankungen, die hoch assoziiert sind mit Adipositas, etwa kardiovaskuläre oder Krebserkrankungen, eine enorme sozioökonomische Belastung bedeuten. Einige Schätzungen gehen zum Beispiel davon aus, dass 40 Prozent der Krebserkrankungen eigentlich auf das Konto von Adipositas gehen. Das heisst, wenn wir Adipositas effektiv behandeln, dann behandeln wir eine riesige Bandbreite an Erkrankungen.

Spielt die bariatrische Chirurgie, also operative Eingriffe, die zu einer Reduktion des Körpergewichts führen, noch eine Rolle?

Auf jeden Fall. Denn wir wissen noch nicht, ob wir die Medikamente gegen Adipositas lebenslang einsetzen können, ob es womöglich bislang unbekannte Nebenwirkungen gibt und ob sie lebenslang effektiv bleiben. Und dann wird es immer Patientinnen und Patienten geben, die diese Medikamente nicht vertragen, die nicht auf die Medikamente ansprechen oder sie aus anderen Gründen nicht anwenden können. Für sie brauchen wir weiterhin die bariatrische Chirurgie. Und wir brauchen sie auch deswegen so dringend, weil wir im Moment viel zu wenige Medikamente haben, um den weltweiten Bedarf zu decken.

Prof. Dr. med. Katharina Timper

Katharina Timper hat an der Universität Freiburg im Breisgau Humanmedizin studiert. 2011 hat sie die Eidgenössische Fachprüfung in Innerer Medizin FMH absolviert, 2016 folgte der Eidgenössische Facharzt FMH in Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, 2023 das Schweizer Diplom in Ernährungsmedizin. Seit 2021 arbeitet Katharina Timper als Leitende Ärztin an der Klinik Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus der Universität Basel. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

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Prof. Dr. med. Katharina Timper

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