«Die Menschen entscheiden sich für ein bestimmtes Verhalten. Aber es liegt in der Verantwortung des Staates, gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen zu schaffen.»
Dez. 2015Internationales
Interview mit Gauden Galea. Bund, Kantone und Gesundheitsförderung Schweiz haben am 22. Juni 2015 anlässlich des NCD-Stakeholder-Treffens den Entwurf für eine Nationale Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD) vorgestellt und diskutiert. Dr. Gauden Galea, Leiter der Abteilung Nichtübertragbare Krankheiten und Lebensverlauf, WHO Regionalbüro für Europa, ist eigens von Kopenhagen angereist, um die Schweizer Strategie aus internationaler Sicht zu würdigen. Galea lobte insbesondere den integrierenden Ansatz des Schweizer Strategieentwurfs, seine Evidenzbasiertheit, die Betonung der Prävention und den Blick auf wirtschaftlich schwächere und verletzliche Bevölkerungsgruppen sowie den konsultativen, partizipativen Prozess.
spectra: Herr Galea, welche Bereiche des aktuellen Entwurfs der Schweizer NCD-Strategie sind Ihrer Meinung nach erwähnenswert?
Gauden Galea: Soweit ich es beurteilen kann, ist die Schweiz in vieler Hinsicht vorbildlich; sie involviert die Erfahrung von Gemeinden, Interessengruppen und der Zivilgesellschaft und sie zieht die Erkenntnisse und bewährten Modelle anderer Länder mit ein. Dementsprechend ist diese Strategie fachlich sehr solide. Sie basiert auf dem aktuellen Stand des Wissens und der Praxis bezüglich nichtübertragbarer Krankheiten. Der Entwurf ist sehr auf Gerechtigkeit und Gleichbehandlung bedacht und zeugt von einem grossen Interesse dafür, besonders vulnerable Gruppen zu identifizieren und anzuvisieren. Das Dokument ist sehr umfassend und richtet sich an die Bedürfnisse, die über den ganzen Lebenszyklus eines Menschen hinweg entstehen. Es beschreibt auch Krankheitsbilder, die nach politischen oder medizinischen Klassifikationen traditionellerweise nicht als NCDs gelten, zum Beispiel muskulo-skelettale Krankheiten oder Demenz. Und es hat eine präventive Ausrichtung, die mehr Wert auf bevölkerungsorientierte Ansätze der Public Health legt als auf die Behandlung allein. Aber selbst bei der Behandlung anerkennt der Entwurf die Bedeutung einer Verbesserung des Gleichgewichts zwischen Tertiär- und Grundversorgung. Er verbindet sich auch sehr gut mit den allgemeinen Grund-sätzen des Public-Health-Rahmenprogramms Gesundheit2020. Der Strategieentwurf vereint alle diese Vorzüge.
Auf der anderen Seite dürfte das Strategiepapier die helvetischen Errungenschaften stärker betonen. Im Bereich Risikofaktorkontrolle verdient die Schweiz sehr gute Noten. Programme, die Sie ins Leben gerufen haben, wie etwa das Nationale Programm Ernährung und Bewegung oder der Tabakpräventionsfonds, haben sich auf die ganze europäische Region ausgewirkt. Ich bin der Schweiz auch zu Dank verpflichtet für ihren Beitrag zur Europäischen Bewegungsstrategie, die wir den Regionalkomitees im September vorgestellt haben. Bemerkenswert ist vor allem die signifikant verringerte Sterberate aufgrund von Herz-Kreislauf-Krankheiten in der Schweizer Bevölkerung. Seit dreissig Jahren sinkt hier die Zahl der Todesfälle. Im Dokument sollte ausdrücklich festgehalten werden, dass die Schweiz ihre Gesundheitsprogramme nicht nur wegen der alternden Bevölkerung und der hohen Behandlungskosten eingeführt hat, sondern auch weil das Land aufgrund der seit über drei Jahrzehnten gesammelten Daten zur öffentlichen Gesundheit Vertrauen in deren Wirkung hat. Das ist wichtig.
Eine mögliche Verbesserung der Strategie könnte darin liegen zu überlegen, was sie bezüglich Governance-Prozessen und NCD-Politik explizit leisten kann. An meiner Präsentation wurde kritisiert, dass ich die Interessen des Gesundheitswesens jenen der Lebensmittelindustrie gegenüberstelle und eine Art «Wir gegen sie»-Modell präsentiere. Tatsächlich will ich aber das Gegenteil vermitteln: Die Lebensmittelindustrie muss Teil der Lösung sein. Wir müssen überlegen, wie die Industrie bei der Lösung der NCD-Probleme aktiv werden kann. Dazu gehört die Anerkennung der Tatsache, dass sie auch eine Ursache für viele dieser Probleme ist. Es ist kein Zufall, dass sich Werbung und Marketing für fett-, zucker- und salzreiche Produkte direkt an Kinder richtet. Irgendjemand in der Firma beschliesst diese Massnahmen, um mehr Geld zu verdienen. Es gibt einen Punkt, an dem freiwillige Zusagen der Industrie und das staatliche Eingreifen aufeinander abgestimmt werden müssen.
Wie könnte das aussehen?
In Dänemark gibt es eine gut funktionierende Vereinbarung. Unternehmen in der Lebensmittelindustrie haben erkannt, dass sie über kurz oder lang mit staatlicher Regulierung konfrontiert würden, wenn es ihnen nicht gelingt, zu einem Konsens zu kommen und die Vereinbarung einzuhalten. Also haben sich die Firmen zusammengetan und ein Arbeitsmodell entwickelt. Sie kontrollieren sich selber und ahnden Verstösse gegen die Abmachungen. Ich kann das am Beispiel der Salzreduktion erklären: Die Unternehmen vereinbaren, dass sie den Salzgehalt in bestimmten Produkten reduzieren. Aber sie wissen auch, dass eine plötzliche Reduktion auf ein Minimum, beispielsweise im Brot, nicht möglich ist. Den Leuten würde das Brot nicht mehr schmecken und sie würden es nicht mehr kaufen. Also reduziert die Industrie das Salz schrittweise über mehr als zehn Jahre, damit sich die Bevölkerung allmählich an den Geschmack gewöhnen kann. Dabei kann es natürlich ein Problem geben: Wenn ein Unternehmen die Vereinbarung nicht einhält und den Salzanteil erhöht, könnte es vermutlich den Mitbewerbern Marktanteile wegnehmen, weil sein Produkt attraktiver würde. Also muss es eine freiwillige Vereinbarung zwischen den Unternehmen geben. Die Unternehmen – auch die grossen unter ihnen – brauchen jedoch die Unterstützung der Regierung, die dafür sorgt, dass kein einzelnes Unternehmen gegen das Abkommen verstösst. Mit selbst auferlegten staatlichen Regulierungen können sie weiterhin zusammenarbeiten und die Situation verbessern.
Gibt es weitere Beispiele aus anderen Bereichen?
Ja, es gibt viele Beispiele, etwa die Eliminierung von Trans-Fetten. Die Schweiz ist eines von nur fünf Ländern in Europa, die über einen gesetzlichen Grenzwert für Trans-Fettsäuren verfügen. Wir wünschen uns, dass noch viel mehr Länder einen sehr tiefen Grenzwert oder sogar ein Verbot von Trans-Fettsäuren einführen. In diesen Bereichen könnte die Lebensmittelindustrie helfen. Sie muss für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden können und ihre Verhaltensregeln sollten international einheitlich sein, das ist wichtig für die Zusammenarbeit mit der Lebensmittelindustrie. Es darf nicht sein, dass sich ein multinationales Unternehmen in der Schweiz anders verhält als zum Beispiel in Osteuropa. Wir brauchen eine offene Diskussion dieser Fragen.
Von aussen betrachtet: Welches sind die grössten Herausforderungen im Bereich NCD, mit denen die Schweiz in den nächsten Jahren konfrontiert sein wird?
Die Schweiz ist ein sehr fortschrittliches Land, was die öffentliche Gesundheit betrifft. Sie ist Teil einer Region, in denen praktisch jedes Land die Rahmenkonvention zur Tabakkontrolle (FCTC) ratifiziert hat, und sie leistet einige sehr gute unabhängige Beiträge zur Tabakprävention. In Anbetracht dessen ist es sehr erstaunlich, dass die Schweiz das Rahmenübereinkommen noch nicht ratifiziert hat. Die Schweiz begrüsst Besucherinnen und Besucher am Flughafen mit augenfälliger Tabakwerbung. Bei allem Respekt für die vielen Erfolge im Gesundheitswesen und angesichts der Tatsache, dass die Schweiz nicht das einzige Land ist, bei dem es in der Politik vorwärts und rückwärts geht: Ich denke, mit der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens könnte die Schweiz ihr Verhältnis zu den Nachbarn wirklich verbessern.
Welche anderen Länder in der Region haben das Rahmenübereinkommen auch noch nicht ratifiziert?
Nur Monaco und Andorra. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der Europäischen Region wird durch das Rahmenübereinkommen abgedeckt. Das Fehlen der Schweiz in dieser Liste ist eklatant. Ich denke, es würde sich für die Schweiz lohnen, diese Unterlassung zu überdenken, besonders wenn ich an die Tabakpräventionsgesetzgebung und an die gute Arbeit denke, die sie leistet.
Worin sehen Sie die Herausforderungen der Zukunft?
Aufgrund der Verringerung der Sterblichkeit im Land haben sich die Herausforderungen nun auf die Behandlung und Pflege verlagert. Die Menschen leben länger, Behandlung und Pflege werden teurer, besonders am Ende des Lebens. Die Lösung dafür ist für mich fast ein Kinderspiel: Man muss entsprechende Anreize für die Planung und Bereitstellung einer guten klinischen Prävention schaffen. Wir haben eine überalterte Bevölkerung und eine gut funktionierende Primärprävention für den gesunden Teil der Bevölkerung. Nun ist die Frage, wie wir sicherstellen können, dass so viel Pflege wie möglich für chronisch Kranke in der Gemeinschaft geleistet werden kann, und zwar so, dass sich Patienten zusammen mit gut qualifizierten und durch entsprechende Anreize motivierten medizinischen Grundversorgungseinrichtungen um sich selbst kümmern können. Es ist nicht an mir, einem Land zu sagen, welches Finanzierungsmodell es anwenden sollte. Aber man könnte einige Indizes erstellen, die aufzeigen, wie viel Geld in die Tertiär- und wie viel in die Grundversorgung fliesst. Aufgrund dieser Daten könnte man zum Schluss kommen, besser mehr Mittel in die Grundversorgung zu investieren.
Die WHO hat gesundheitspolitische Leitlinien für Länder mit knappen Ressourcen erstellt. Diese sind natürlich nicht unmittelbar für die Schweiz anwendbar. Aber es ist sinnvoll, die Grundversorgungspolitik nicht allein auf die Verschreibung der wichtigsten Arzneimittel zu beschränken, sondern auch die wichtigsten Interventionen zu einem möglichst günstigen Preis anzubieten. Dann könnte man Leistungsanreize und Indikatoren für Schlüsselleistungen schaffen, während das System sich weiterentwickelt.
Die Regierung könnte ihr Image im Ausland durch die Ratifizierung des Tabak-Rahmenabkommens erheblich verbessern. Aber das ist nicht das Einzige, was sie tun kann. In vielen Gesundheitsbereichen wird gute Präventionsarbeit geleistet. Es gibt Möglichkeiten, deren Funktionieren besser zu beurteilen und die Ergebnisse nicht nur mit medizinischen, sondern auch mit den sozialen Bereichen zu verknüpfen. So könnte man Gradienten über die sozialen Klassen hinweg erkennen und feststellen, ob all jene von der Prävention profitieren, die es nötig haben. Schliesslich könnte man so auch den riesigen Komplex bestehend aus Krankenhäusern, medizinischer Grundversorgung und Krankenversicherungen verbessern und sehen, welche Finanzierungs- und Anreizstrukturen ein gutes Paket an Grundversorgungsinterventionen generieren.
In Ihrer Rede haben Sie gesagt, Gesundheit sei eine politische Entscheidung, und haben dann aufgezeigt, dass viele Regierungen nicht jene Massnahmen ergreifen, die auch tatsächlich Wirkung zeigen. Haben Sie eine Strategie, um solche Regierungen zu ermutigen?
Eine Lektion habe ich im Laufe meiner dreissigjährigen Karriere im Gesundheitswesen gelernt: Es gab eine Zeit, in der man sich entscheiden musste, ob man im Flugzeug im Raucher- oder Nichtraucherbereich sitzen wollte. Beim Einchecken bat ich jedes Mal um einen Platz am Gang so weit weg vom Raucherbereich wie möglich, weil ich manchmal in der Nähe des Raucherabteils fast erstickt war. Und plötzlich verschwand das Rauchen aus allen Flugzeugen auf der ganzen Welt. Auslöser waren nicht gesundheitliche, sondern Sicherheitsbedenken der Fluggesellschaften. Also wurde das Rauchen verboten. Vorher hatte ich immer geglaubt, Public Health funktioniere nach dem Prinzip des Kampfes: Man macht seinen Standpunkt klar, der Beweis wird wissenschaftlich erbracht, die entsprechende Entscheidung getroffen und dann wird das weltweit umgesetzt. Aber diese Vorstellung ist sehr weit von der aktuellen Realität entfernt.
Warum? Können Sie das erklären?
Nehmen Sie eine Massnahme wie die Tabakbesteuerung oder die Schaffung rauchfreier öffentlicher Plätze. Es gibt einen festen Satz von Argumenten, die die Tabakindustrie in jedem Markt vorbringt. Ihre Taktik besteht darin, uns zu sagen, dass wir die Landwirtschaft zerstören, die Kriminalität und den Schmuggel fördern, die Gastronomie und den Fremdenverkehr schädigen und die armen süchtigen Raucher verletzen, weil wir ihnen noch mehr Geld von ihrem Einkommen wegnehmen und den Steuern zuführen. Gegen all diese Argumente gibt es seit Langem starke Gegenbeweise, in jedem Land. Aber irgendwie schafft es die Industrie immer wieder, sie in jedem Markt ins Feld zu führen. Das Vorgehen der Public Health auf regionaler Ebene besteht dann oft darin zu sagen: Lasst uns das Rad neu erfinden und alle Beweise gegen diese Standardargumente zusammentragen. Wir in der globalen Public-Health-Gemeinschaft müssen die lokalen Akteure unterstützen, indem wir ihnen klar machen, dass sie nicht zum ersten Mal angegriffen werden. Argumente wie «wenn es legal ist, Tabak zu verkaufen, dann ist es auch legal, dafür zu werben» werden seit den 70er-Jahren immer wieder vorgebracht. Eine schlagkräftige Industrie wird sie in jedem Markt immer und immer wieder einsetzen. Das verzögert den Prozess und stoppt ihn in einigen Fällen sogar. Diese Situation lässt sich nicht verbessern, indem man einfach regionale Leitlinien verfasst und annimmt, dass alle Länder diese annehmen. Um einer solch mächtigen Industrie entgegenzuwirken, ist mehr Kontrolle notwendig. Übrigens nehme ich das Beispiel Tabak, weil ich damit am klarsten erklären kann, was ich meine. Mit Tabak ist es sehr einfach, denn wir wollen seinen Konsum möglichst vollständig beseitigen. Bei Lebensmitteln oder Alkohol ist die Sache viel komplexer.
Komplexer, weil mehr Akteure beteiligt sind?
Ja, sektorübergreifende Massnahmen sind etwas, was wir alle wollen, aber sie sind äusserst kompliziert zu bewerkstelligen. Wenn ein Public-Health-Akteur zum Anwalt für rauchfreie öffentliche Plätze werden will, muss er bei der Gastronomiebranche ganz andere Argumente vorbringen als bei der Landwirtschaft, wo es um Preise, Zölle und Finanzen geht. Dort wird über grenzüberschreitenden Handel, Substitution, Elastizität und Regressivität gesprochen. Dort tauchen all diese Argumente aus dem Bereich der Finanzpolitik auf, die mit rauchfreien öffentlichen Plätzen nichts zu tun haben. Public-Health-Akteure sind oft zu naiv, wenn sie auf diese intersektoralen Diskussionen eingehen. Es genügt nicht zu sagen, dass wir ein grosses Problem haben und die Politik in eine gewisse Richtung verschieben möchten. Sie müssen in der Lage sein, die Sprache dieses Sektors oder dieser Industrie zu verstehen, um in der Lage zu sein, sowohl die Kämpfe auszufechten wie auch wirkliche Partnerschaften einzugehen. Ich denke, dies ist der spannendste Bereich von Public Health, aber man sollte sich nicht ohne Vorbereitung dort hineinbegeben.
Hat das auch mit Bildung zu tun?
Ja, mit Bildung auf vielen Ebenen. Wir haben bisher nicht über Medien gesprochen, aber ich denke, eine raffiniertere Nutzung der Medien ist wichtig für das Gesundheitswesen. Wir müssen die Menschen auf die Bedeutung bestimmter Verhaltensweisen gegenüber anderen aufmerksam machen, damit sie die richtigen Entscheidungen treffen können. Wir dürfen die Wichtigkeit des öffentlichen Bewusstseins nicht unterschätzen. Leider wird es von Berufs-leuten im Gesundheitswesen tendenziell abgewertet. Sie sagen, die Gesundheitserziehung sei mangelhaft und dass sich durch Bildung kein Verhalten ändere, sondern nur durch Rahmenbedingungen. Aber ich denke, das Bewusstsein davon, dass etwas gut oder schlecht für uns ist, ist die Voraussetzung für eine Entscheidung.
Ich plädiere auch für eine Erweiterung der Lehrpläne für Public-Health-Fachleute. Studierende müssen die Grundlagen von Soziologie, Verwaltung, Regierungsarbeit und politischen Prozessen kennen. Dazu gehören beispielsweise Fallstudien von Public-Private-Partnerships, vom Umgang mit der EU oder von der Rolle des Handels in der Gesundheitspolitik und wie man eine Lösung zum beidseitigen Vorteil erarbeiten kann. In keinem dieser Bereiche gibt es nur ein Richtig. Gesundheitsfachleute, die heute ihre Ausbildung abschliessen, sollten ein umfassenderes Wissen von Wirtschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben.