
«Es bestehen viele Fragen und kritische Zweifel, ob das die richtigen Lösungen sind.» - «Man kann von den Arbeitnehmenden nicht ewig verlangen, dies selbst zu finanzieren.»
Jun. 2017Die Angehörigen
Interview. Interview mit Daniella Lützelschwab vom Schweizerischen Arbeitgeberverband und Valérie Borioli Sandoz vom Arbeitnehmerverband Travail.Suisse. Unsere Gesprächspartnerinnen äussern sich zu den Massnahmen des Bundes, wie sie im «Aktionsplan zur Unterstützung und Entlastung pflegender Angehöriger» und im «Förderprogramm Entlastungsangebote für pflegende Angehörige 2017–2020» geplant sind. Was es heute schon gibt, ob neue Bestimmungen nötig sind oder nicht und wo Arbeitgeber wie Arbeitnehmer gefordert sind, um für alle tragfähige Lösungen zu finden, das sind unsere Gesprächsthemen.
spectra: Wie stehen Arbeitgeberund Arbeitnehmerverbände zu den geplanten Massnahmen, Arbeitnehmenden die Betreuung und Pflege Angehöriger und Nahestehender zu erleichtern?
Valérie Borioli Sandoz, Travail.Suisse: Die Thematik betrifft die Arbeitnehmerverbände in hohem Masse, da sie die Interessen der Arbeitnehmenden vertreten. Wir alle sind früher oder später mehr oder weniger betroffen, sei es als Elternteil, Kind, Partner … und eine uns nahestehende Person wird Unterstützung oder Pflege benötigen. Die zunehmende Alterung der Bevölkerung akzentuiert diese Thematik zusätzlich.
Über diese Art von Care-Aufgaben wird allerdings zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu wenig gesprochen. Man redet darüber, wenn sie ein Kind betrifft, weniger aber, wenn Angehörige und Nahestehende wie Ehe-, Lebenspartner oder Eltern Hilfe benötigen. Die Firmen erfahren oft erst sehr spät von den Problemen ihrer Mitarbeitenden, d.h. oft erst, wenn diese bereits völlig erschöpft sind und die Doppelbelastung nicht mehr bewältigen können. Eine solche Sprechkultur muss erst geschaffen werden. Sie ist aber wichtig. Arbeitnehmende müssen ein Problem ansprechen, sobald es sich abzeichnet und nicht erst, wenn sie mitten in einer Krisensituation stecken und ihre Arbeitszeiten anpassen möchten.
Daneben interessieren wir uns sehr für den rechtlichen Rahmen, der in unseren Augen noch nicht ausgereift ist. Zum Beispiel können heute Eltern bis zu drei Arbeitstage bezahlten Urlaub beziehen, wenn ihr Kind krank ist. Erkranken jedoch die Eltern einer erwerbstätigen Person, fehlt diese Möglichkeit. Und das ist nur ein Beispiel. Vor einer Anpassung des Rechtsrahmens ist noch viel Informations- und Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Alle Beteiligten müssen zu Wort kommen, damit gemeinsam Mittel und Wege zur Bewältigung dieser Problematik gefunden werden.
Daniella Lützelschwab, Schweizerischer Arbeitgeberverband: Verschiedene Punkte sehe ich ähnlich. Angefangen bei der demografischen Entwicklung. Wir haben künftig mehr ältere Personen und vermehrt das Thema, dass diese älteren Personen wahrscheinlich gesund sind und wünschen, zu Hause zu bleiben. Wenn sie zu Hause bleiben, brauchen sie ab einem gewissen Alter trotzdem Unterstützung, weil Krankheiten dazukommen oder sie hilfsbedürftig werden.
Wenn wir von den Arbeitgebern sprechen, ist es ausserdem wichtig, zu schauen, wer der typische Arbeitgeber ist. Gemäss der Betriebszählung 2008 des Bundesamtes für Statistik (2010) haben rund 87 Prozent der Unternehmen im Maximum neun Mitarbeitende, rund zehn Prozent beschäftigen bis 49 Arbeitnehmende. Das heisst, rund 97 Prozent der Unternehmen sind Kleinstunternehmen. Ein kleines Unternehmen hat nicht dieselben Möglichkeiten, eine kurzfristige Stellvertretung zu organisieren oder die Kosten für einen zusätzlichen, externen Ersatz zu finanzieren. Davon unabhängig sind die Unternehmen sehr daran interessiert, zu helfen und ihre Arbeitnehmenden zu unterstützen. Und das nicht erst, wenn der Mitarbeitende nicht mehr kann, sondern frühzeitig.
Wie können die Unternehmen Mitarbeitende mit Betreuungsaufgaben unterstützen bzw. wo unterstützen sie bereits heute?
Lützelschwab: Entscheidend ist das Ausmass des Betreuungsbedarfs, welchen der Mitarbeitende abdecken will: Geht es darum, dass der Mitarbeitende zwei-, dreimal in der Woche beim Vater vorbeigehen und kochen möchte? Oder, dass er dem Vater hilft, am Morgen aufzustehen, und deshalb etwas später ins Unternehmen kommt? Oder geht es gar darum, eine Person mit einer Demenz mehrere Tage in der Woche zu begleiten? Ist Letzteres der Fall, dann nehmen der Pflegeund der Betreuungsbedarf ein anderes Ausmass an, weil die Belastung eines 100-Prozent-Jobs kombiniert mit einersolch grossen Aufgabe vielleicht über zwei, drei, vier Jahre enorm hoch wäre. Dann stellt sich die Frage der Machbarkeit. Heute werden Lösungen diskutiert, welche mit grossen finanziellen Verpflichtungen für die Arbeitgeber verbunden sein können. Dies ist ein schwieriger Ansatz.
Im betrieblichen Einzelfall muss die konkrete Situation diskutiert werden, die sich stellt. Was aber eine einheitliche, gesetzliche Verpflichtung für alle Unternehmen und alle möglichen Betreuungsfälle angeht, bestehen grosse Zweifel, dass solche Einheitslösungen der richtige Weg sind.
Borioli: Das stimmt, in Bezug auf den Betreuungsbedarf ist die Bandbreite sehr gross. Die beschriebene Situation, eine 100-Prozent-Stelle auszufüllen und zugleich für das pflegebedürftige Familienmitglied da zu sein, ist extrem belastend. Dabei sind ja nicht nur Betreuungsaufgaben wahrzunehmen. Es geht auch darum, die Einsätze von beteiligten Gesundheitsfachleuten zu koordinieren und administrative Aufgaben zu erledigen, zum Beispiel mit den Sozialversicherungen. Diese koordinative und administrative Arbeit nimmt ebenfalls viel Zeit in Anspruch. Deshalb muss das Gespräch mit dem Arbeitgeber gesucht werden, um eine Lösung etwa für die Umgestaltung der Arbeitszeit zu finden. Und noch einmal: Es stimmt, jede Situation sieht immer wieder anders aus und jedes Unternehmen ist anders, aber es gibt trotzdem einen groben rechtlichen Rahmen, den man abstecken kann.
Bestehende Regelungen müssen an die heutige Lebensweise angepasst werden, ohne dass das ganze Sozialversicherungssystem gefährdet wird. Eine davon ist das 30-Kilometer-Kriterium: So hat nur Anspruch auf Betreuungsgutschriften, wer eine verwandte Person betreut, die nicht mehr als 30 Kilometer vom eigenen Wohnort entfernt lebt. Angesichts der heute erhöhten Mobilität und der längeren Distanzen zwischen Wohnund Arbeitsort hat ein solches Kriterium keine Daseinsberechtigung mehr. Es war eine parlamentarische Initiative von Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach, die diesen Umstand aufgegriffen hat. Sie zielt auf eine Neuregelung bezüglich der Betreuungsgutschriften für pflegende Angehörige in der AHV, weil sie wie beschrieben zu restriktiven Kriterien unterliegen.
Was meinen Unternehmer- und Arbeitnehmerverband zu den geplanten gesetzlichen Regelungen?
Borioli: Gewisse bestehende Gesetze müssen der heutigen Situation angepasst werden. Aber auch wenn der Rechtsrahmen perfekt wäre, könnte er nicht den Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden ersetzen. Was den Unternehmen die Aufgabe jedoch erleichtern kann, sind Aspekte wie die der Vorhersehbarkeit und der Kostenverteilung. Dank der Initiative, die Travail. Suisse gemeinsam mit anderen Organisationen lanciert hat, wird heute der Vaterschaftsurlaub thematisiert. Verteilt man die Kosten für einen solchen auf alle Unternehmen, sind sie für den einzelnen Betrieb eher tragbar, als wenn er allein dafür aufkommen muss. In finanzieller Hinsicht würde ein solcher neuer Rahmen die Unternehmen entlasten, insbesondere die KMU. Dasselbe Prinzip liesse sich auf die Urlaube pflegender Angehöriger in Notsituationen anwenden.
Lützelschwab: Wir haben Artikel 36 Abs. 1 im Arbeitsgesetz, der nicht nur die Betreuung von Kindern bis fünfzehn Jahre, sondern auch die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger und nahestehender Personen einschliesst. Wir haben somit eine Regelung, die aus unserer Sicht zu Recht auf das Thema der Arbeitsbedingungen fokussiert, d.h., wie kann ich ich das alles im Bezug auf Überzeiten, Mittagspausen etc. organisieren (Art. 36 Abs. 2). So darf ich über den Mittag nach Hause und für den Vater kochen. Diese Rücksichtnahme kann ich einfordern. Es ist keineswegs so, dass wir insbesondere für die nahestehenden Personen keine gesetzlichen Regelungen hätten.
Doch das Salär ist dort nicht geregelt?
Lützelschwab: Richtig, da käme Artikel 324a (OR) zum Zuge. Damit haben wir schon einmal gesetzliche Vorschriften. Diese werden nicht alle Fragen beantworten, aber wir haben bezüglich pflegebedürftiger Angehöriger durchaus Normen, um einen solchen Rahmen zu bilden. Das ist das eine. Das andere ist, dass es nicht nur eine Diskussion braucht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern auch auch die Diskussion zwischen Arbeitnehmer und Team, gerade wenn es eine Situation ist, die über eine gewisse Zeit andauert. Das Team wird die belastende Situation des Kollegen oder der Kollegin spüren und wird dafür Verständnis haben müssen. Eine Diskussion soll nicht darüber geführt werden müssen, welche Abwesenheitsgründe wichtiger sind als andere von Teamkollegen, welche dann auch noch einspringen müssen. Es kann zu einer Situation der Demotivation führen, wenn primär auf Mitarbeitende mit Kindern und auf solche mit pflegebedürftigen Angehörigen Rücksicht genommen wird und die Gruppe ohne Kinder und pflegebedürftige Angehörige immer in Notfällen einspringen muss. Hier werden sie als Arbeitgeber dafür sorgen müssen, dass die Arbeitsbedingungen die Balance halten und nicht ungute Gefühle aufkommen.
Noch kurz zu den Kosten: Natürlich ist es so, dass wenn eine Leistung auf viele Schultern verteilt werden kann, es tendenziell für den einzelnen weniger wird. Doch es stehen heute schon viele politische Projekte im Raum: Vier Wochen Vaterschaftsurlaub, 24 Wochen Elternzeit, für die pflegenden Mitarbeitenden ein Betreuungsurlaub und diesen Forderungen gegenüber eine Erwerbsersatzordnung (EO), welche für die Finanzierung dieser Projekte vorgeschlagen ist und die 2016 ein Minus von rund 90 Millionen Franken gemacht hat. Man kann aus der jeweiligen Situation Verständnis haben für den Vaterschaftsurlaub, für die Elternzeit, für den Pflegeurlaub. Wenn das Geld aber nicht reicht, dann sind es eben doch wieder Lohnbeiträge, über die wir diese Anliegen finanzieren müssen. Diese Bedenken scheinen auch im Ausland dazu geführt zu haben, dass die Formen von Betreuungsurlaub praktisch überall entweder mit einem symbolischen Beitrag oder Zeit abgegolten oder entschädigungslos vorgesehen sind. Diese Modelle sind also selten mit einer eigentlichen Lohnfortzahlungspflicht verbunden wie sie heute in der Schweiz diskutiert wird, sondern vielmehr auf die Gewährung von Zeit ausgerichtet.
Borioli: Gleichzeitig leben wir in einem sogenannt «reichen Land», und im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ist festzustellen, dass die Schweiz bezüglich Sozialleistungen ziemlich im Rückstand ist. Das gilt beispielsweise für den Elternurlaub. Wenn man dafür die paritätischen Beiträge etwas heraufsetzen muss, liegt das im Interesse der Allgemeinheit. Dafür müssen nicht alleine die Unternehmen aufkommen, sondern auch die Arbeitnehmenden. Man kann aber nicht ewig von den Betroffenen erwarten, dass sie die Familienpolitik allein finanzieren. Es bedeutet eine starke finanzielle Belastung, die Arbeitszeit zu reduzieren, um Angehörige pflegen zu können. Das wird sich auch auf den Ruhestand der pflegenden Angehörigen auswirken. Durch das tiefere Arbeitspensum werden sie kleinere Beiträge an die Altersvorsorge geleistet und weniger gespart haben und müssen mit einer tieferen Rente und weniger Vermögen auskommen. Das ergibt eine ganze Verkettung von schwerwiegenden Konsequenzen.
Ein Vorstoss von Nationalrat Stefan Müller-Altermatt verfolgt diesbezüglich einen neuen, interessanten Ansatz: Er schlägt vor, dass der Staat die Arbeitgeberbeiträge an die zweite Säule kompensiert, die den pflegenden Angehörigen durch die Reduktion ihres Arbeitspensum entgehen. Der Bundesrat hat diesen Vorstoss angenommen, um dessen Machbarkeit zu prüfen. Wir brauchen innovative Lösungen, denn der Pflegebedarf besteht hier und jetzt, und wir können nicht einfach alles den Familien und Angehörigen überlassen.
Wo sehen Sie noch besonderen Bedarf, wie man die Angehörigen entlasten könnte?
Lützelschwab: Eine wichtige Aufgabe sehe ich insbesondere bei der Information. Wo gehe ich in Notfällen hin, wer könnte mir rasch helfen, wenn ich selber nicht aus dem Büro kann, aber gerade jetzt etwas etwas passiert ist? Solche Tipps und gute Beispiele wurden etwa im KMUHandbuch des SECO gesammelt. Sie finden dort etwa den Fall, dass Unternehmen in den Gemeinden Anlaufstellen und Notfalladressen abklären und ihren Mitarbeitenden zur Verfügung stellen, oder im Notfall gar für diese anrufen. Die Unternehmen werden sich bewusst, dass das ein Bedürfnis der Mitarbeitenden ist, weil diese sich in unserem System oftmals nicht allein zurechtfinden.
Borioli: Es war sogar schon die Rede von einem Case Management, das die Unternehmen im Sinne einer Dienstleistung situativ für die jeweiligen Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden einkaufen könnten. Die Koordination und die Kontaktpflege mit allen möglichen Akteuren erfordern viel Know-how und Zeit. Wir könnten uns durchaus vorstellen, dass die öffentliche Hand oder Private dafür sorgen, dass die Unternehmen Zugang zu solchen Dienstleistungen haben.
Für die Arbeitnehmenden, aber auch für die Arbeitgeber haben wir die Plattform «Info Work + Care» lanciert. Dort sind grundlegende Informationen und Tipps für pflegende Angehörige zu finden. Man erfährt, wie man sich am Arbeitsplatz am besten verhält und wie man etwa in einem Notfall vorgehen muss. Zuerst sollte man seine Situation sorgfältig analysieren. Es ist nicht immer nötig, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen.
Müssen die Führungspersonen auf diese Thematik stärker sensibilisiert werden?
Lützelschwab: Wenn die Führungsleute nicht mitgenommen werden und das Verständnis für die Thematik bei ihnen nicht vorhanden ist, dann wird das natürlich schwierig. Aber es ist meines Erachtens ein privates Anliegen, für das Arbeitnehmende den Mut und die Offenheit haben müssen, es anzusprechen. Sie dürfen erwarten, dass die Führungsebene ihre Sorgen ernst nimmt und sie mithilft, nach Lösungen zu suchen. Lösungen, die aber auch für die Betriebe passen müssen, und das sind nicht für jeden Betrieb die gleichen. Aber gegenseitige Ansprüche darf man sicher haben.
Borioli: Das ist gut, aber es reicht nicht. Man kann natürlich nicht mit Nichts eine verständnisvolle Unternehmenskultur aufbauen, dessen sind wir uns wohl bewusst. Aber der rechtliche Rahmen muss verbessert werden und für alle gültig sein, damit Ungleichheiten möglichst gering ausfallen.
Glauben Sie, dass die Massnahmen im Hinblick auf den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen einen nachhaltigen Beitrag leisten können? Dass es so öfter gelingen wird, Fachkräfte trotz familiärer Pflegeaufgaben in der Arbeitswelt zu halten?
Lützelschwab: Die Rückmeldungen aus den betroffenen Branchenverbänden zeigen uns, dass diese ein Fragezeichen bei der vorausgesagten Anzahl des fehlenden Pflegepersonals setzen. Die Schweiz besitzt im internationalen Vergleich die höchste Zahl an ausgebildeten Pflegefachpersonen pro Einwohner.
Ein weiteres Fragezeichen setzen wir, wenn vor allem auf die freiwillige Übernahme von Pflegetätigkeiten durch nicht ausgebildete Angehörige gesetzt wird. Pflegerische Tätigkeiten sind gesetzlich normiert – zum Schutz derjenigen, die die Tätigkeiten ausführen, und derjenigen Personen, die die Leistungen bekommen. Weshalb aber wird nicht Personen ohne Berufslehre, die sich für diese Tätigkeit interessieren und eignen könnten, mit einer niederschwelligen Ausbildung (z.B. Assistentin Gesundheit und Soziales mit Berufsattest) eine berufliche Perspektive gegeben? Man könnte so weit gehen und vorläufig aufgenommene Personen mit Pflegeberufen sprachlich und kulturell fördern, sie dann praktisch einsetzen oder niederschwelligen Ausbildungen wie den erwähnten zuführen.
Wir haben keine Kenntnis davon, dass Pflegefachpersonen aufhören zu arbeiten, weil sie ihrerseits die Vereinbarkeit von ihrem Beruf und der Entlastung und Betreuung von Angehörigen nicht sicherstellen können. Wenn, dann ist es eher wegen noch kleiner Kinder, dass die Vereinbarkeit nicht überall optimal ist.
Wir haben grosse Zweifel, dass die in diesem Zusammenhang vom Bundesrat vorgestellten Massnahmen den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen nachhaltig verbessern könnten.
Borioli: Hier wäre vielleicht die Frage der Löhne und der Wertschätzung der Arbeit ins Spiel zu bringen. In der Schweiz üben viele Personen einen pflegenden Beruf aus, die diesen leider nicht sehr lange ausüben. Da muss man sich Gedanken über die Arbeitsbedingungen und die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit mit dem Privatleben machen. Was die Arbeits- und Lohnbedingungen angeht, gibt es bei den gut ausgebildeten Personen noch einiges zu tun. Ob die vorgestellten Massnahmen die richtige Lösung sind, bleibt abzuwarten.
Ein Trend ist bei Familien festzustellen, die über entsprechende Mittel verfügen: Sie engagieren auf temporärer Basis Personen aus dem Ausland, etwa aus Rumänien oder Bulgarien. Die Schwarzarbeit stellt dort ein grosses Problem dar, weil es keinerlei Kontrolle über die Arbeitsbedingungen der Betroffenen gibt. Das kann zu einer Art moderner Sklaverei führen. Den Familien ist nicht bewusst, dass sie faktisch Arbeitgeber geworden sind und als solche – wie alle Arbeitgeber und auch ihr eigener Arbeitgeber – eine ganze Reihe von Regelungen beachten müssen.
Die Organisation Caritas setzt in einigen Kantonen ein Projekt unter dem Motto «In guten Händen» um. Dabei wird in einem geregelten, kontrollierten Rahmen der dreimonatige Arbeitsaufenthalt von Personen aus Rumänien organisiert. Diese Personen verfügen über eine pflegerische Ausbildung und arbeiten in ihrem Land bereits für Caritas. Sie erhalten einen gerechten Lohn und die Zusammenarbeit mit ihnen kostet gleich viel wie die Unterbringung der pflegebedürftigen Person in einem Pflegeheim. Dem Wunsch der Pflegebedürftigen, so lange als möglich zu Hause Betreuung erfahren zu können, wird dadurch entsprochen. Auf diese Weise wird in der Gesundheitsversorgung viel Geld gespart, was die Staatskasse entlastet.
Erwerbstätige, denen es noch besser ermöglicht wird, Angehörige oder Nahestehende zu pflegen, bleiben einem Unternehmen länger treu, sind motivierter und tragen generell zu einer guten Stimmung im Unternehmen bei. – Was meinen Sie dazu?
Borioli: Dem kann ich nur zustimmen. Wenn Arbeitnehmende und ihre Probleme beim Arbeitgeber auf offene Ohren und nicht auf Ablehnung stossen, ist die Motivation grösser, bei diesem Arbeitgeber zu bleiben.
Eine arbeitnehmerfreundliche Familienpolitik kommt auch dem Unternehmen zugute. Das hat eine unter der Leitung des Wirtschaftsdepartements durchgeführte Erhebung im Jahr 2005 bei Grossunternehmen wie der Post oder der Migros gezeigt. Die Unternehmen konnten mit einem Return on Investment von acht Prozent rechnen. Würde man dieselbe Studie unter Einbezug des ganzen Spektrums an Lösungen zur Unterstützung und Entlastung pflegender Angehöriger durchführen, wäre ich nicht erstaunt, wenn das Ergebnis ebenso positiv ausfallen würde.
Lützelschwab: Ich glaube auch, dass es im Einzelfall sehr geschätzt wird und dazu führen kann, dass jemand einem Unternehmen länger treu bleibt. Daneben gibt es jedoch auch die Personen, die zwar sehr dankbar sind und trotzdem, eine sich bietenden Chance ergreifen und den Arbeitgeber wechseln. Auch das ist okay.
Wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch der Blick auf die Kolleginnen und Kollegen in der Firma, die während einer Abwesenheit die Stellung gehalten haben. Werden sie nicht von Anfang an informiert und auch in diesem Prozess mitgenommen, dann wird irgendwann die Stimmung leiden. Eine solche Betreuungs- bzw. Abwesenheitskultur muss von allen geprägt und gelebt werden. Nehmen Sie nur einzelne mit könnten andere das Gefühl haben, dass sie immer die Verlierer in diesem Unternehmen sind. Dann werden Sie diese Mitarbeitenden früher oder später verlieren. Und dann ist das, was sie bei den einen an Anstellungskosten gespart haben, bei der anderen Person verloren und erneut zu investieren.
Je länger je mehr entsteht so ein komplexes Zusammenspiel von Bedürfnissen, die von allen Beteiligten unter einem Betriebsdach mitgetragen werden müssen. Das muss die Zielsetzung sein, aber es wird keine leichte Aufgabe.
Borioli: Das ist wirklich eine Frage der Unternehmenskultur. Ein anschauliches Beispiel kenne ich aus einem Seminar am Forschungsinstitut Careum zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Care-Tätigkeit. Der Geschäftsführer der DM Bau AG, Mark Mislin, war selbst von einem Pflegefall in der Familie betroffen und führte eine diesbezüglich sehr offene Unternehmenskultur und Personalpolitik ein. So kann er auf sehr loyale und motivierte Mitarbeitende zählen.
Sind es hauptsächlich Frauen oder übernehmen auch Männer Aufgaben der Betreuung und Pflege?
Borioli: Es sind zwar heute noch mehrheitlich Frauen, die ihre Angehörigen betreuen, aber die Männer sind nicht völlig abwesend. Sicher reduzieren deutlich weniger Männer ihr Arbeitspensum, um Care-Aufgaben zu übernehmen, aber es kommt vor. Männer übernehmen aber eher andere, beispielsweise administrative Aufgaben. Aber auch diese Aufgaben sind zeitaufwendig. Am Ende ist jede Hilfe willkommen, ganz gleich welcher Art.
Lützelschwab: Ich denke auch, dass die Aufgaben andere sind. Es ist heute noch so, dass Frauen und Mütter typischerweise die Betreuung der Kinder, Eltern etc. übernehmen. Noch immer scheint der Gedanke vorzuherrschen, es falle der Frau leichter als einem Mann, pflegende Aufgaben zu übernehmen.