Wird die Ethik in der Gesundheitsförderung vernachlässigt?
Jan. 2013Ethik und Public Health
Forum Prof. Dr. Klaus Peter Rippe. Wenn es um Gesundheitsförderung geht, stellen sich auf zwei Ebenen ethische Fragen. Auf der ersten werden konkrete Massnahmen zur Gesundheitsförderung auf ihre moralische Zulässigkeit geprüft. Auf der zweiten wird das gewählte Ziel moralisch hinterfragt. Die Public-Health-Ethik hat sich bisher vor allem auf der ersten Ebene bewegt. Ethische Fragen werden wohl auch hier in Einzelfällen vernachlässigt, in der Regel wird die Frage nach der moralischen Zulässigkeit einer Massnahme aber angemessen diskutiert. Anders sieht es auf der zweiten Ebene aus. Dass Gesundheitsförderung einer moralischen Rechtfertigung bedarf, mag vielleicht verwundern. Aber es ist aus ethischer Sicht ein Unterschied, ob man kranken oder pflegebedürftigen Menschen hilft, ob man jemand vor akuten Gefahren für Leib und Leben warnt oder ob man ihn zu einer Umstellung seiner Lebensweise bewegen will, um sein (langfristiges) Wohl zu fördern. In die letzte Rubrik fallen Massnahmen und Aktivitäten zum Erhalt und zur Stärkung der Gesundheit anderer.
Eine Fürsorgepflicht besteht nach allgemeiner Auffassung in besonderen zwischenmenschlichen Beziehungen, etwa innerhalb der Kernfamilie oder in der Arzt-Patienten-Beziehung. Ob sie auch zwischen Fremden gilt, ist fraglich. Die wenigsten von uns würden es goutieren, wenn ihnen Verkäufer oder andere fremde Menschen mit Blick auf den Einkaufswagen empfehlen, fettreiche Lebensmittel doch besser zu vermeiden. Solche Mahnungen sind zwar gut gemeint, aber reine Bevormundung.
Private Stiftungen und Vereine zur Gesundheitsförderung beteiligen sich an einem freien öffentlichen Diskurs, in dem man andere auch zu einer Änderung ihrer Lebensweisen auffordern darf. Staatliche Organisationen können freilich nicht allein auf diese Freiheit rekurrieren. Staatliche Massnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung werden von den Steuerzahlern berappt und bedürfen deshalb einer besonderen Legitimation und nachvollziehbarer Ziele.
Geht es um den volkswirtschaftlichen Nutzen gesunder Menschen, liefern allenfalls bestimmte Varianten des Utilitarismus ein Argument für die Gesundheitsförderung. Aber für die meisten anderen ethischen Theorien ist volkswirtschaftlicher Nutzen nicht einmal ein Argument.
Auch wenn er oft als Rechtfertigungsgrund angeführt wird, ist ebenso fraglich, ob man auf den nachhaltigen Erhalt der Versicherungssysteme verweisen darf. Bleiben die Menschen länger gesund, reduzieren sich die Gesundheitskosten nicht notwendig, sondern verschieben sich auf spätere Lebensabschnitte. Bis dato hat die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung jedenfalls nicht zu einer Senkung der Gesundheitsausgaben geführt. Zudem müsste diskutiert werden, ob Kostenüberlegungen überhaupt den Ausschlag geben dürfen. Haben Bürger, etwa aufgrund ihrer Menschenwürde, einen unbedingten Anspruch auf gewisse Leistungen des Gesundheitswesens, so hat der Staat eine Pflicht, diese Leistungen zur Verfügung zu stellen. Haben wir aber ein bedingungsloses Recht auf Behandlung, so gibt es auch schwerlich eine Solidaritätspflicht zur Gesundheit.
Wenn man fragt, wo Ethik in der Gesundheitsförderung vernachlässigt wird, so ist auf diese Ebene zu verweisen: die Rechtfertigung des Ziels.
Prof. Dr. Klaus Peter Rippe,
Professor für praktische Philosophie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe/Mitinhaber des Büros ethik im diskurs gmbh.