Gesundheitsminister Alain Berset: «Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem ein gesundes Verhalten einfach ist.»
Mai. 2013Gesundheitspolitik
Interview mit Bundesrat Alain Berset. Im Januar hat der Bundesrat die Strategie «Gesundheit2020» verabschiedet – einen gesundheitspolitischen Wegweiser mit 4 Handlungsfeldern und 36 Massnahmen als Etappen. Gesundheitsminister Alain Berset sprach mit «spectra» über die Rolle der Prävention in dieser gesundheitspolitischen Gesamtschau, über Staats- und Eigenverantwortung, das föderalistische Gesundheitssystem und die Wichtigkeit einer intra- und interdepartementalen Zusammenarbeit, um die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern und zu erhalten.
spectra: Aus dem Strategiepapier «Gesundheit2020» geht hervor, dass Sie der Prävention grosses Gewicht einräumen. Das könnte auch der Schlüssel zu den angestrebten Kosteneinsparungen von 20% im Gesundheitswesen sein. Wie wollen Sie in Zukunft die Prävention stärken, insbesondere nach dem Scheitern des Präventionsgesetzes?
Bundesrat Alain Berset: Das neue Präventionsgesetz ist im Parlament gescheitert, weil es keine Mehrheit für die Finanzierungsbestimmung gab. Das ist zwar bedauerlich, bietet uns aber die Chance, über neue, gesamtheitliche Modelle nachzudenken. Wir können mit unseren Partnern zusammen eine langfristige und breit abgestützte Strategie entwickeln. Dabei brauchen wir die Unterstützung aller Akteure im Gesundheitswesen. Die drei Präventionsprogramme «Tabak», «Alkohol» sowie «Ernährung und Bewegung» wurden im letzten Herbst vom Bundesrat bis 2016 verlängert. Sie sichern die Kontinuität in der Präventionspolitik. Wir müssen jedoch unser Gesundheitssystem noch besser auf die stetige Zunahme von nichtübertragbaren Krankheiten ausrichten. Momentan sind wir am Erarbeiten der entsprechenden Strategie.
Die Prävention steht im Spannungsfeld zwischen der Verantwortung des Einzelnen und der staatlichen Aufgabe, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Welche Rolle weisen Sie dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) in diesem Spannungsfeld zu?
Das BAG setzt in der Präventionsarbeit von jeher auf zwei Ebenen an: Zum einen sollen die Menschen gezielt darüber informiert werden, wie sie ihre Gesundheit schützen können. Das betrifft ganz verschiedene Bereiche wie die Ernährung, die körperliche Bewegung, aber auch den Schutz vor übertragbaren Krankheiten oder den Umgang mit Suchtmitteln. Zum andern müssen wir ein Umfeld schaffen, in dem ein gesundes Verhalten einfach ist. Was nützt es, wenn sich jemand gesund ernähren will, aber die entsprechenden Produkte nicht kennt oder nicht bekommt? Wenn wir auf beiden Ebenen gute Arbeit leisten, können die Menschen eine gesunde Wahl treffen und umsetzen. Aber es ist im Endeffekt natürlich an ihnen, dies auch zu tun. Da ist Eigenverantwortung gefragt.
Die Gesundheit ist Kantonshoheit. Dieser historisch gewachsene Föderalismus führt zu einem helvetischen Gesundheitsdschungel. Wo möchten Sie als Gesundheitsminister das Ruder mehr in die Hand nehmen, wo soll der Bund zusätzliche Kompetenzen bekommen?
Grundsätzlich ist die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen in vielen Bereichen sinnvoll. Unsere Aufgabe ist es, nationale Strategien zu entwickeln und die Tätigkeit der Kantone in den einzelnen Bereichen zu unterstützen und zu koordinieren. Die Kantone sollen auch weiterhin Lösungen entwickeln können, die auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Heute sind die Steuerungs- und Vollzugskompetenzen in vielen Bereichen aufgeteilt. Wir haben aber auch gemeinsame Kompetenzen – etwa in der Finanzierung der Versorgung und in der Bildung. Dort fehlt es zum Teil noch an gemeinsamen Steuerungsinstrumenten, einer präzisen Definition der jeweiligen Aufgaben und an Koordinationsgremien, mit denen wir die Zusammenarbeit effizienter gestalten können. Hier suchen wir gemeinsam nach Lösungen.
Die Bevölkerung schätzt unser Gesundheitssystem grundsätzlich. Dennoch braucht es in allen Bereichen Verbesserungen, die der Bundesrat mit dem Reformprojekt «Gesundheit2020» anpackt. Die 4 festgelegten Handlungsfelder treffen den Kern der öffentlichen Gesundheit. Sie sind jedoch abstrakt und erfordern deshalb einfach verständliche Hintergrundinformation und Überzeugungsarbeit. Ist zur Umsetzung der neuen Prioritäten in der Gesundheitspolitik des Bundesrats ein Kommunikationskonzept vorgesehen?
«Gesundheit2020» ist eine Gesamtstrategie, mit der wir unser Gesundheitswesen in den nächsten Jahren gezielt auf die kommenden Herausforderungen ausrichten und weiter verbessern. Sie stützt sich auf 36 Massnahmen in allen Bereichen, die wir schrittweise umsetzen wollen. Wir werden selbstverständlich alle wichtigen Schritte und Entscheide detailliert kommunizieren, sie aber jeweils auch in den Kontext von «Gesundheit2020» stellen. Damit können wir aufzeigen, welche Wirkung sie für das gesamte Gesundheitssystem entfalten. Die einzelnen Massnahmen sind aufeinander abgestimmt und ergänzen sich gegenseitig. Zudem wird das BAG regelmässig Bericht darüber erstatten, wo die Umsetzung von «Gesundheit2020» steht.
Auf Seite 7 des Dokuments anerkennt der Bundesrat, dass 60% der Faktoren, welche die Gesundheit der Bevölkerung beeinflussen, ausserhalb des Gesundheitssystems liegen. Die Ziele und Massnahmen sind krankheitsorientiert und richten sich hingegen ausschliesslich an die Verbesserung des Gesundheitssystems selbst. Weshalb hat der Bundesrat zur Verbesserung der Chancengleichheit und der Lebensqualität die intra- und interdepartementale Zusammenarbeit nicht als Priorität festgelegt?
Diese Zusammenarbeit ist zentral und wir lassen ihr auch verstärkt Aufmerksamkeit zukommen. Im Unterschied zum Ausland ist es in der Schweiz aber so, dass wir schon viele Abstimmungs- und Koordinationsinstrumente innerhalb der Bundesverwaltung kennen – etwa interdepartementale Arbeitsgruppen, die Generalsekretärenkonferenz, die Ämterkonsultationen oder die Mitberichtsverfahren vor den Entscheiden des Bundesrates, in denen sich die anderen Departemente zu den Geschäften äussern können. Hier müssen und werden wir mehr tun, können aber auf Vorhandenem aufbauen. Es ist klar: Wenn wir andere Bereiche wie die Raumplanung, den Verkehr, den Sport oder die Mobilität für gesundheitsfördernde Massnahmen gewinnen, können wir die Gesundheit der Menschen in unserem Land noch viel besser schützen.
An der Pressekonferenz zu «Gesundheit2020» haben Sie unser Gesundheitssystem als zu wenig transparent bezeichnet. Eine Möglichkeit, mehr Transparenz zu schaffen, ist die Erhebung statistischer Daten. Sind Sie bereit, die gesetzlichen und finanziellen Grundlagen dafür zu schaffen?
Die OECD und die WHO attestieren unserem Gesundheitssystem eine sehr hohe Qualität, sehen aber Handlungsbedarf bei der Steuerung und bei der Transparenz. Wir sehen dies gleich und haben diese beiden Punkte deshalb auch in die Gesamtschau «Gesundheit2020» aufgenommen. Eine Massnahme ist der Ausbau und die Verbesserung der Datengrundlagen und ihrer Analyse, eine andere die Einführung neuer Steuerungsinstrumente, etwa bei der ambulanten Versorgung. So können die Kantone in diesem Bereich ein Über- oder Unterangebot verhindern. Für eine höhere Transparenz und eine effizientere Steuerung des Gesundheitssystems braucht es noch bessere Daten, eine Vereinfachung, aber auch neue gesetzliche Steuerungsinstrumente.
Der Einsatz moderner elektronischer Medien soll die Qualität der Versorgung verbessern und die Kosten senken. Die gesetzliche Grundlage für E-Health ist in Vorbereitung. Welche Vorteile versprechen Sie sich von diesen Neuerungen?
Der Einsatz elektronischer Hilfsmittel, insbesondere auch des elektronischen Patientendossiers, verbessert die Behandlungsqualität. Denn so sind alle Beteiligten besser informiert und können sich aufeinander abstimmen.
Unser Gesprächspartner
Bundesrat Alain Berset ist als Vorsteher des Departements des Innern (EDI) auch Gesundheitsminister der Schweiz. Der 41-Jährige Freiburger SP-Politiker wurde im Dezember 2011 als Nachfolger für Micheline Calmy-Rey in die Landesregierung gewählt. 2003 bis 2011 war er im Ständerat, den er im Amtsjahr 2008/2009 präsidierte. Alain Berset studierte Politikwissenschaft an der Universität Neuenburg und doktorierte 2005 in Wirtschaftswissenschaft. Vor seiner Wahl zum Bundesrat war er als selbstständiger Strategie- und Kommunikationsberater tätig. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.