
Sexuelle Gesundheit und Transmenschen: Terra incognita?
Nov. 2013Transgender
Eine vernachlässigte und verletzliche Gruppe. Viele internationale Studien zeigen eine besondere Vulnerabilität von Transmenschen, insbesondere im Bereich HIV und anderer sexuell übertragbarer Infektionen.
Eine aktuelle Meta-Analyse von 29 Studien aus Nordamerika schätzt die HIV-Prävalenz bei Transfrauen (male to female) in US-amerikanischen Grossstädten auf 11,8 bis 27,7%, und sogar auf bis zu 35% bei Transgender-Sexarbeiterinnen. Transmänner (female to male) sind nur zu 2 bis 3% betroffen.
In der Schweiz liegen keine epidemiologischen Daten zu sexuell übertragbaren Infektionen (STI) in der Transgender-Bevölkerung vor. Es gibt nur eine von der Stiftung Agnodice 2008 durchgeführte Studie bei Transfrauen, die in Lausanne als Sexarbeiterinnen tätig sind. Diese Studie zeichnet ein besorgniserregendes Bild der Risiken, mit denen diese Bevölkerungsgruppe konfrontiert ist, und macht ihre spezifische Verletztlichkeit sichtbar. Hauptrisiken sind der Austausch von Spritzen für die Injektion von Hormonen oder Silikon, um ihre Körper weiblicher zu gestalten, und ungeschützte Sexualkontakte im Rahmen ihrer Arbeit. Als Sexarbeiterinnen tätige Transfrauen sind oft stark marginalisiert und werden häufig Opfer von Erpressung und Gewalt – auch von Polizeigewalt. Problematischer Drogen- und Alkoholkonsum unter dem Druck der Kunden ist weit verbreitet. Ihre psychische Gesundheit ist besonders gefährdet. Depression und Suizidversuche kommen im Durchschnitt häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung. Die Kunden der sich prostituierenden Transfrauen zeichnen sich durch besondere Charakteristika aus: Sie suchen einen weiblichen Körper mit einem funktionierenden Penis, der zu Erektion und Ejakulation in der Lage ist. Die Untersuchung der Stiftung Agnodice kommt zum Schluss, dass die 50 Transgender-Sexarbeiterinnen in der Region Lausanne jährlich etwa 30 000 sexuelle Kontakte haben.
Auf der Grundlage dieser Ergebnisse hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Jahr 2012 das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Lausanne (IUMSP) mit einem Rapid Assessment beauftragt. Dieses hatte zum Ziel, das Ausmass der Risiken zu analysieren, welche von Mitgliedern dieser Bevölkerungsgruppe eingegangen werden, und Empfehlungen im Hinblick auf die Bedürfnisse zu formulieren.
Für eine bessere Anerkennung der Menschenrechte und der
sexuellen Rechte der Transmenschen in der Schweiz?
Im gleichen Jahr hat das Eidgenössische Amt für das Zivilstandswesen eine Rechtsauskunft publiziert und sich darin gegen das Erfordernis einer Sterilisierung und/oder eines Aufbaus von Geschlechtsorganen als Vorbedingung zum rechtlichen Nachvollzug einer Geschlechtsänderung im Zivilstandsregister ausgesprochen. In der Schweiz können Transmenschen Anspruch auf Anpassung ihres Zivilstandes im Einklang mit ihrer Genderidentität erheben, auch wenn diese nicht mit ihren Genitalien übereinstimmt. Mit anderen Worten sind Männer mit weiblichen Genitalien und Frauen mit männlichen Genitalien in der Schweiz immer häufiger und völlig legitim.
Um sein Nationales Programm HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen 2011–2017 mit der Erklärung der sexuellen Rechte der «International Planned Parenthood Federation (IPPF)» in Einklang zu bringen, hat das BAG am 24. April 2013 in Biel ein Schweizer HIV&STI-Forum zur sexuellen Gesundheit von Transmenschen durchgeführt. Das Ziel dieses Forums war die Sensibilisierung und Fortbildung von Fachleuten der sexuellen Gesundheit (Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Beraterinnen und Berater) zum Thema Transgender und die Präsentation der Ergebnisse des vom IUMSP Lausanne durchgeführten Rapid Assessments.
Schweizer HIV&STI-Forum 2013: sexuelle Gesundheit für Transmenschen
Im Zentrum des Schweizer HIV&STI-Forums 2013 stand die Präsentation von Dr. Viviane Namaste, Professorin am Institut Simone de Beauvoir an der Concordia University in Montreal. Ihre Forschung zeigt die Unsichtbarkeit der Transmenschen in der Gesundheitspolitik, ihren schwierigen Zugang zu den Institutionen und die fehlende epidemiologische Überwachung ebenso wie die Verletzlichkeit der migrierenden oder sich prostituierenden Transmenschen auf verschiedenen Ebenen. Verschiedenen Schätzungen zufolge weisen diese Gruppen eine deutlich erhöhte HIV-Prävalenz auf.
Die Ergebnisse des Rapid Assessments wurden von Dr. Raphaël Bize vorgestellt. Sie bestätigen die Notwendigkeit, Massnahmen zur HIV/STI-Prävention bei Transgender-Sexarbeiterinnen zu entwickeln. Ausserdem zeigen sie Lücken in den Gesundheitsdaten und betonen den gegenüber Transfrauen und Transmännern oft feindlich eingestellten soziokulturellen und institutionellen Kontext. Das IUMSP empfiehlt abschliessend die Lancierung von Präventionsmassnahmen innerhalb der Community der Transgender-Sexarbeiterinnen sowie bei deren Kunden. Es empfiehlt ausserdem die Weiterbildung der Gesundheitsfachleute zum Thema Transgender und die Integration der Variable «Transgender» in das HIV/STI-Meldesystem, in die statistische Erfassung der VCT-Zentren (BerDa) sowie in die Gesundheitserhebungen in der Allgemeinbevölkerung.
Der zweite Teil des Forums wurde in drei Workshops gegliedert. Der erste richtete sich an die Leistungserbringer im Gesundheitswesen und zeigte auf, wie sie ihre Angebote für Transmenschen verbessern können. Der zweite Workshop berichtete über die Schwierigkeiten von Transmenschen, ihre Identität aufzubauen, und die damit verbundenen Risiken. Der letzte Workshop befasste sich mit Transmenschen in der Sexarbeit. Dieser Workshop zeigte Lücken im Wissen und den Kompetenzen der Fachleute auf sowie den schlechten Zugang zur Versorgung und den Mangel an geeigneten Präventionsangeboten.
Die präsentierten Beiträge des Schweizer HIV&STI-Forums und die Zusammenfassungen der Diskussionen in den Workshops sind auf der Website des Bundesamtes für Gesundheit zu finden.
Wie geht es weiter?
Heute sind Transmenschen durch das Nationale Programm HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen 2011–2017 vorbehaltslos als eine schutzbedürftige Gruppe anerkannt. Die Checkpoints von Zürich und Waadt haben speziell auf die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe ausgerichtete Dienstleistungen entwickelt. Das BAG seinerseits hat Transmenschen und Personen mit Variationen der sexuellen Entwicklung (Intersexuelle) in seine Ergänzungsformulare für meldepflichtige sexuell übertragbare Infektionen integriert. In Zukunft wird es seine Partner dazu ermutigen, Aktivitäten zur Bekämpfung von HIV/STI insbesondere bei der Zielgruppe der Transgender-Sexarbeiterinnen zu entwickeln und umzusetzen.
Kontakt
Steven Derendinger, Sektion Prävention und Promotion, steven.derendinger@bag.admin.ch