Aus erster Hand
Mär. 2014Genuss und Risiko
Editorial Pascal Strupler. Sucht und Genuss – beide Begriffe wecken in uns allen Emotionen und persönlich gefärbte Erinnerungen. Beim Versuch, etwas rationaler zu erfassen, was Genuss und was Sucht genau sind, tut man sich dagegen schwer. Dies geht auch den Experten so. Sie sind sich aber zumindest darüber einig, dass man den Übergang vom Genuss zur Sucht nicht präzise definieren kann. Das macht diesen Graubereich, diese diffuse Trennlinie zwischen freud- und massvollem, gefahrlosem Genuss und dem zwanghaft masslosen, gesundheitsgefährdenden Konsum zu einer interessanten, aber auch herausfordernden Frage für die staatliche Suchtprävention.
Wo liegt die Schwelle, an der Genuss zur genusszerstörenden Abhängigkeit wird? Wie wir alle wissen, hängt dies stark von den psychischen und physischen Effekten der einzelnen legalen oder illegalen Rauschmittel wie Koffein, Alkohol, Nikotin, Cannabis, Heroin oder Kokain ab, aber auch vom physischen und psychischen Zustand jedes Einzelnen und seiner sozialen Einbindung. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede, welche die gesellschaftliche Toleranz gegenüber der einen oder anderen Substanz in den verschiedenen Ländern prägen. Das ändert aber nichts daran, dass wir alle – auch ohne eine wissenschaftlich definierte Trennlinie – intuitiv spüren, ob einem der Genuss die Sinne angenehm betört oder ob man gerade dabei ist, über die Stränge zu hauen. Dieser masslose Genuss wird irgendwann unzähmbar und auf die Dauer zur Sucht.
So komplex wie die Realität ist auch die Suchtbekämpfung. Sie beschränkt sich nicht auf die klassischen Drogen. Auch Arbeitswut, Spieltrieb, das ständige Schielen aufs Handy und aufs Tablet, ja auch sportliche Exzesse beinhalten Suchtpotenzial. Vielleicht ist es in unserer schnelllebigen Zeit, in der Hektik des Alltags schwieriger geworden, «normale» Aktivitäten zu geniessen, die uns auch dann guttun, wenn wir sie ausgiebig betreiben. Sich zurücklehnen, das Tempo reduzieren, durchatmen, ein gutes Buch lesen, Musik hören, wandern, mit Freunden diskutieren – solche entschleunigenden Genüsse sind wohl die beste Suchtprävention.
Pascal Strupler
Direktor
Bundesamt für Gesundheit