Das Gespräch übers Geniessen ist kein pädagogischer Trick
Mär. 2014Genuss und Risiko
Forum Christine Wullschleger. Sie sitzen im Kreis, die Jungs, zurückgelehnt in ihren Stühlen, die Köpfe gesenkt, die Kappen tief in die Stirn gezogen. Gern sind sie nicht hier. Sie haben gekifft und wurden über die Jugendanwaltschaft zu einem Kurs verknurrt – bei mir in der Suchtpräventionsstelle. Und dieser beginnt jetzt.
Seit Anfang der 1990er-Jahre führe ich Gespräche und Kurse mit unter 18-jährigen Jugendlichen zum Thema Cannabis durch. Vermittelt werden diese Gespräche durch die Jugendanwaltschaft, eine Schule oder ein Heim. Gelegentlich melden Eltern ihren Sohn oder ihre Tochter an und in seltenen Fällen Jugendliche sich selber.
Meine erste Frage irritiert: «Was ist eigentlich das Genussvolle am Kiffen?» Die Jungs setzen sich gerade auf, lächeln cool und antworten schnell: «Es ist einfach geil!» Dann hinterfrage ich diese einfachen Aussage so lange, bis jeder im Kreis sich darüber bewusst wird, was genau das Angenehme des Bekifftseins ist, wie er den Moment, in dem Cannabis seine Wirkung entfaltet, erlebt, was er in welcher Situation Positives dabei sucht.
Natürlich ist ein differenziertes Gespräch über Genüsse schwierig, nicht nur für Jugendliche, nicht nur für Menschen mit einem wenig gefüllten schulischen Rucksack. Aber möglich ist es. Immer.
Dass ich dem Angenehmen, Genussvollen so viel Raum gebe, ist kein pädagogischer Trick, um die Teilnehmer aus der Reserve zu locken, sondern es bildet die Grundlage für die weiteren Themen. «In welcher Situation ist ein bekiffter Geist nicht so toll oder gar gefährlich?» «Was, wenn das Kiffen zum Medikament gegen unangenehme Gefühle wird?» «Wie würde ich merken, wenn es bei mir Suchtcharakter bekäme?» «Wo hole ich Hilfe, wenn ich es nicht mehr im Griff habe?» «Was, wenn ich aufhören würde?» All dies kann nur vertieft erarbeitet werden, wenn das Gefühl für die positive Wirkung da ist.
Es wird nicht nur im Kreis geredet; je nach Umfang des Kurses gibt es zusätzliche Diskussionsthemen (zum Beispiel die persönliche Situation), Einzel- und Gruppenaufträge, bei denen etwas gelesen oder ein Arbeitsblatt ausgefüllt werden muss. Den Kern bilden aber immer die oben skizzierten Fragen.
Meistens geschieht diese Auseinandersetzung mit Cannabis in einer Gruppe mit einer Co-Kursleitung. Früher genügte uns ein Abend, später wurden daraus zwei bis vier Sequenzen. Für bestimmte Jugendliche ist ein Kurs mit andern zusammen nicht angezeigt, diese lade ich zu einem oder zwei Einzelgesprächen ein. 80 bis 90% sind männliche Jugendliche. Mädchen fallen eben weniger auf, auch wenn sie fast gleich viel kiffen.
Die Auftraggeber erfahren, ob die/der Jugendliche teilgenommen hat oder nicht. Die Kursthemen sind bekannt, der Inhalt der Gespräche wird nicht kommuniziert.
Jugendlichen, die kiffen, einen Kurs zu verordnen, statt sie Pausenplätze putzen zu lassen – diese Idee hat inzwischen Fuss gefasst. Anfängliche Zweifler aus Beraterkreisen («Das müsste doch freiwillig sein!») sind stiller geworden. Es handelt sich nämlich klar um Bildungsanlässe mit dem Ziel, für das aktuelle und künftige Leben Denk- und Handlungsanstösse zu geben («Es ist wie Schule», pflege ich zu sagen). Therapeutische Ansprüche haben dabei nichts zu suchen.
Die letzte Viertelstunde des Kurses ist angebrochen. «Was, schon vorbei?» murmeln einige erstaunt. Ihre Gesichter sind offen, wach. Fast alle bedanken sich. Wenn ich ihnen später irgendwo begegne, schildern sie mir, wie es ihnen geht. Ich mag sie.
Christine Wullschleger,
Suchtpräventionsstelle
Zürcher Unterland
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