«Suizid betrifft nicht nur das Individuum, sondern auch das Umfeld»
Dez. 2022Suizidprävention
Viele Menschen schämen sich für ihre Suizidgedanken – und tragen sie jahrelang mit sich herum, ohne mit jemandem darüber zu sprechen. Egal, wo das Thema zur Sprache kommt: Man sollte es nicht abklemmen, sondern zuhören, meint der Psychiater Stephan Kupferschmid.
Herr Kupferschmid, wie merken Sie bei Ihrer Arbeit, ob jemand suizidgefährdet ist?
Das zeigt sich meist im Eintrittsgespräch. Bei uns in der Klinik arbeiten wir nach einem standardisierten Prozess. Wir fragen jeden Patienten und jede Patientin, der oder die zu uns kommt: «Wie ist es mit Suizidgedanken?» Solche Gedanken sind keine Erkrankung, aber doch etwas, worunter die Betroffenen leiden. Und wo wir gegebenenfalls dann gemeinsam schauen, dass wir darüber reden und für Sicherheit sorgen können.
Es geht also eher um verbale Äusserungen von Suizidgedanken als um mehr oder weniger versteckte Zeichen, wie etwa das Ritzen, von dem immer wieder die Rede ist?
Selbstverletzungen kommen bei ziemlich vielen Jugendlichen vor. Wenn man in Schulklassen geht und fragt: «Hast du dich im letzten halben Jahr willentlich selber verletzt?», sagen im Schnitt vier oder fünf Jugendliche in jeder Klasse: «Ja, das habe ich mal gemacht.» Bei Selbstverletzungen gibt es eine grosse Spannbreite. Sie reicht von Personen, die sich einmalig geritzt oder eine Zigarette auf dem Arm ausgedrückt haben, bis zu Jugendlichen, die sich mehrmals täglich Verletzungen zufügen. Bei den meisten von ihnen hat das – glücklicherweise – nichts mit Suizidalität zu tun. Für uns gilt es, herauszufinden, wer von diesen vielen Jugendlichen wirklich gefährdet ist. Wer sich also nicht nur ritzt, sondern beispielsweise in der Nähe des Bahnhofs auch daran denkt, sich vor einen Zug zu werfen.
Kriegen Sie immer ehrliche Antworten? Was ist, wenn jemand die Frage nach Suizidgedanken verneint, aber insgeheim doch daran denkt?
Das können wir natürlich nicht ausschliessen. Wir können keine Gedanken lesen. Aber für uns Fachpersonen ist es unsere Aufgabe, eine Gesprächssituation zu schaffen, die von Wohlwollen geprägt ist und auch in Krisensituationen beruhigend wirken kann. Wir – das heisst die Ärztin oder der Arzt und die Pflegefachpersonen, die ja im Alltag den meisten Kontakt mit den Patientinnen und Patienten auf unseren Stationen haben – versuchen, mit den Betroffenen eine therapeutische Beziehung oder vielleicht sogar eine therapeutische Allianz zu knüpfen.
Wichtig ist dabei, dass wir keine Einzelkämpfer sind, sondern dass wir im Team arbeiten. Ob eine Patientin oder ein Patient beim Eintritt suizidal ist, bewerten wir zu zweit und interdisziplinär. Bei uns macht das zum Beispiel eine erfahrene Psychologin mit einer Pflegefachkraft, die sich dann auch austauschen und ihre Gefühle abgleichen können.
Wir beziehen – nach einem Suizidversuch – auch die Angehörigen mit ein. Bevor wir die Patientin oder den Patienten entlassen, laden wir etwa den Partner zu einem Gespräch ein, in dem wir gemeinsam die Frage klären: «Fühlen wir uns zusammen sicher genug, um diesen Schritt zu machen?» Das al- les braucht Zeit. Aber es braucht auch Personal, das gut geschult ist und keine Angst vor Suizidalität hat, sondern sich professionell damit auseinandersetzt.
«Für uns Fachpersonen ist es unsere Aufgabe, eine Gesprächssituation zu schaffen, die von Wohlwollen geprägt ist und auch in Krisensituationen beruhigend wirken kann.»
Gibt es altersspezifische Unterschiede in der Suizidalität?
Ja, in der Schweiz weisen ältere Männer die höchste Suizidrate auf. In absoluten Zahlen sind Suizide bei Jugendlichen zum Glück selten. Doch relativ gesehen gehört der Suizid zu den häufigsten Todesursachen im Kindes- und Jugendalter. Beunruhigenderweise stellten wir während der Corona-Pandemie eine deutliche Zunahme der Notfälle in der Jugendpsychiatrie fest. Bei vielen Notfällen ist Suizidalität ein zentrales Thema.
Hat diese Zunahme etwas mit Vereinsamung zu tun?
Nicht nur, zu uns kamen auch Jugendliche aus Familien in beengten Wohnverhältnissen, wo es während des Lockdowns dann vermehrt zu Konflikten kam. Aber ja, dass soziale Isolation und Einsamkeit bei Suiziden eine grosse Rolle spielen, ist bekannt. Das zeigte sich zum Beispiel auch in einer Studie aus Mexiko. In ehemals sehr ländlich geprägten Regionen, die sich in den letzten Jahren zu mehr städtischen Gebieten entwickelt haben, stiegen die Suizidraten mit diesem Wechsel zur Urbanität an.
Welche weiteren Beweggründe für Suizide sind bekannt?
Wir wissen aus sogenannten psychologischen Autopsiestudien, dass ein grosser Anteil von Erwachsenen vor dem Suizid unter psychischer Belastung steht. Bei Jugendlichen, die Suizid begehen, ist der Anteil mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung etwas kleiner. Dafür scheint die Impulsivität eine etwas grössere Rolle zu spielen. Doch solche Erklärungsmuster bringen meiner Meinung nach nicht viel, weil jeder Fall eine Geschichte hat, die sehr individuell ist.
Im Übrigen werden Suizide nur sehr selten aus einem spontanen Impuls heraus begangen. Gemäss der sogenannten interpersonalen Theorie wird die Fähigkeit zum Suizid allmählich erworben. In einem Prozess, der sich oft über mehrere Jahre erstreckt. Jemand, der mit 17 Jahren einen ersten Suizidversuch unternimmt, hat sich vielleicht mit 14 Jahren erstmals Selbstverletzungen zugefügt und sich schon mit 12 Jahren gedanklich intensiv mit seinem Todeswunsch beschäftigt.
Wenn ein Suizid in so einem jungen Alter vollendet wird, ist das besonders tragisch. Das belastet nicht nur die behandelnden Fachpersonen, sondern zieht auch die Familie, die Angehörigen und die Klassenkameradinnen und -kameraden in Mitleidenschaft. Ein Suizid betrifft nicht nur das Individuum, sondern immer auch das Umfeld.
Wie meinen Sie das?
Ein vollendeter Suizid löst massive Gefühle aus, einen intensiven Gefühlssturm. Bei den Angehörigen, aber auch beim Fachpersonal tauchen unweigerlich Fragen auf: «Habe ich etwas übersehen? Hätte ich etwas anders machen können? Habe ich Schuld am Suizid?»
Wenn sich bei uns in der Klinik ein Suizid ereignet, was zum Glück nicht oft geschieht, laden wir die Angehörigen zu einem Gespräch ein. Wir lassen sie in der Situation nicht alleine. In diesen Gesprächen geht es häufig um eine Erklärungsperspektive: Wir tauschen uns darüber aus, was wir gemeinsam verstanden haben. Wir machen die Hinterbliebenen auf Selbsthilfegruppen wie etwa «Nebelmeer» aufmerksam. Allerdings weist das Angebot für Angehörige schweizweit noch viele Lücken auf, hier muss die Arbeit weiter gestärkt werden. Das hat auch der Bericht zum Zwischenstand der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans gezeigt. Er hält fest, dass viele Initiativen institutionell nur schwach verankert sind und mit der Sicherung ihrer Finanzierung kämpfen.
«Wenn sich bei uns in der Klinik ein Suizid ereignet, was zum Glück nicht oft geschieht, laden wir die Angehörigen zu einem Gespräch ein. Wir lassen sie in der Situation nicht alleine.»
Was machen Sie, um eine Person davon abzubringen, ihre Suizidgedanken in die Tat umzusetzen?
In den Behandlungsgesprächen versuchen wir, das «Warum?» der suizidalen Verhaltensweise zu ergründen. Letztlich wollen wir verstehen: Was für eine Funktion hat der Todeswunsch? Das sind sehr individuelle Aspekte, die in die eigene Lebensgeschichte eingebettet sind. Wenn wir sie nachvollziehen können, ist das schon der erste Schritt in der Therapie.
Aber die Suizidprävention umfasst nicht nur die Therapie, sondern setzt auch an anderen Punkten an: Zum Beispiel, wenn Lehrpersonen geschult oder wenn Brücken gesichert werden. Die Suizidprävention ist keine rein medizinische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Das Einschränken der Verfügbarkeit von suizidalen Mitteln, etwa durch die Installation von Netzen an Brücken, ist eine wirksame Massnahme der Suizidprävention.
Was kann die Gesellschaft denn tun?
Eine der wirksamsten Massnahmen der Suizidprävention besteht darin, die Verfügbarkeit von tödlichen Mitteln einzuschränken. Unter diese Massnahme fallen nicht nur Fangnetze an Brücken oder Absperrungen vor den Bahnschienen, sondern auch kleinere Packungsgrössen von Medikamenten oder das Einsammeln und Wegsperren von Schusswaffen. In Studien zeigt sich klar, dass solche Einschränkungen nicht zu einer Verlagerung führen – im Sinne von: Wenn weniger Menschen von der Brücke springen, dann erschiessen sich mehr Leute. Nein, mit Einschränkungen lässt sich die Anzahl Suizide tatsächlich verringern.
Aus einer liberalen Warte liesse sich argumentieren, dass man mit der Einschränkung von tödlichen Mitteln die Menschen bevormundet.
Eine andere Sichtweise ist, dass man für Sicherheit sorgt – gerade auch in krisenhaften Situationen. Beim Autofahren haben wir uns daran gewöhnt, dass Airbags und Autogurte Leben retten. Da würden wir auch nicht von Bevormundung sprechen. Wer in einer tiefen Krise steckt, denkt daran, sein Leben zu beenden, aber oft nicht daran, dass die Krise vorbeigeht. Das entspricht auch unserem psychiatrischen Verständnis von Suizidalität: Das ist ein Zustand, in dem Gedanken eingeengt sind. Aber es gibt Wege, die aus diesem Zustand herausführen. Mit passender Unterstützung und angemessener Behandlung lässt sich bei vielen Menschen eine deutliche Verbesserung erzielen. Die Suizidalität ist nach der Behandlung vielleicht nicht ganz weg, aber die Betroffenen können anders damit umgehen. In der Therapie erkennen wir den Todeswunsch an: «Ja, die Suizidgedanken sind da. Du leidest darunter, das ist keine schöne Situation.» Gleichzeitig haben wir den Anspruch, etwas dagegen zu tun. Wir wollen den Suizid verhindern.
Inwiefern spielen religiöse Motive, in denen Suizid als unmoralisch und als Sünde erachtet wird, bei Ihrer Arbeit eine Rolle?
Wir denken, dass Suizidversuche und Suizide eben nicht moralisch bewertet, sondern als Ausdruck von Leiden angesehen werden sollen – ohne Wertung oder gar Verurteilung. Denn die Stigmatisierung führt dazu, dass Suizidgedanken schambesetzt sind. Viele belastete Menschen tragen diese Gedanken sehr lange mit sich herum, ohne mit jemandem darüber zu sprechen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Betroffene in der Woche vor ihrem Suizidversuch häufiger als sonst zu ihrem Hausarzt oder ihrer Hausärztin gehen. Dort reden sie über Kopf- oder Bauchschmerzen, über Müdigkeit und Schlafstörungen, aber nicht über ihre Suizidgedanken. Hier knüpft auch das Programm «Reden kann retten» an, das Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner zum Nachfragen animieren möchte, wenn jemand mit Schmerzen kommt, die nicht zugeordnet werden können.
«Die Stigmatisierung führt dazu, dass Suizidgedanken schambesetzt sind. Viele belastete Menschen tragen diese Gedanken sehr lange mit sich herum, ohne mit jemandem darüber zu sprechen.»
Sie denken, für die Betroffenen ist der Hausarztbesuch eine Art Hilferuf, bei dem sie aber nicht explizit auf ihre Notlage hinweisen?
Menschen, die mit Suizidgedanken kämpfen, sind wirklich belastet. Und diese Belastungen können sich sehr unterschiedlich äussern. Manche Menschen zahlen ihre Schulden zurück oder geben Bücher zurück, die sie vor fünf Jahren ausgeliehen haben. Bei Jugendlichen merken oft auch Ausbildungsverantwortliche, wenn sich etwas verändert. Wenn man hellhörig ist, gibt es viele Möglichkeiten zum Intervenieren. Dann ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen – und zuzuhören. Auch wenn Suizidgedanken für viele ein schwieriges Thema sind, sollten wir das Thema nicht abklemmen, wenn es zur Sprache kommt, sondern ein offenes Ohr haben. Dafür braucht es keine Fachpersonen, denn das kann eigentlich jeder Mensch.
Dr. med. Stephan Kupferschmid
Nach dem Studium der Humanmedizin an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg und Assistenzjahren an verschiedenen psychiatrischen Kliniken in Deutschland und der Schweiz erlangte Stephan Kupferschmid im Jahr 2010 den Facharzttitel für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Danach war er als Oberarzt und Leitender Arzt an der Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie tätig. Kupferschmid ist seit März 2018 Chefarzt der Adoleszentenpsychiatrie an der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland, wo er mit seinem Team Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Krisensituationen beisteht. Zudem ist er Präsident von Ipsilon, der nationalen Dachorganisation zur Suizidprävention.