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«Suizidprävention funktioniert – und zwar überall auf der Welt»

Ausgabe Nr. 136
Dez. 2022
Suizidprävention

5 Fragen an Alexandra Fleischmann, Suizidpräventions- Expertin bei der Weltgesundheitsorganisation WHO. Im neuen WHO-Leitfaden stehen vier evidenzbasierte Massnahmen im Fokus. Die Menschheit müsse sich von der Vorstellung lösen, dass man nichts gegen Suizide tun könne – und jetzt handeln, sagt Fleischmann.

1 Wieso hat die WHO letztes Jahr einen Leitfaden zur Suizidprävention herausgegeben?

Weltweit fordern Suizide jedes Jahr mehr als 700 000 Menschenleben. Doch viele dieser Suizide liessen sich verhindern. Die WHO hat schon 2014 mit dem ersten Weltbericht zur Suizidprävention ihre Mitgliedstaaten zum Handeln aufgerufen. In diesem Bericht haben wir den epidemiologischen Hintergrund präsentiert und sind detailliert auf die Schutz- und Risikofaktoren des Suizids eingegangen. Der Bericht hat zwar dazu geführt, dass mehr Länder eine nationale Strategie entwickelt haben. Aber wir hatten uns mehr erhofft – und denken, dass der Bericht im Nachhinein gesehen vielleicht zu langatmig war.

Jetzt haben wir den Inhalt vereinfacht. Für den neuen Leitfaden haben wir vier zentrale Massnahmen herausgegriffen, deren Nutzen belegt und allgemein anerkannt ist. Der Leitfaden führt auch Beispiele auf, die zeigen, dass Suizidprävention funktioniert – und zwar überall auf der Welt. Wir wollen damit mehr Länder ansprechen. Mit der Botschaft: Egal, wo ein Land im Moment steht, ob es schon einen nationalen Aktionsplan aufgestellt hat oder nicht – es ist wichtig, jetzt aktiv zu werden.

«Mit dem Leitfaden wollen wir mehr Länder ansprechen. Mit der Botschaft: Egal, wo ein Land im Moment steht, ob es schon einen nationalen Aktionsplan aufgestellt hat oder nicht – es ist wichtig, jetzt aktiv zu werden.»

2 Zu den zentralen Interventionen gehört die Einschränkung von suizidalen Mitteln. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Ungefähr ein Fünftel aller weltweiten Suizide sind auf Selbstvergiftung mit Pestiziden zurückzuführen, das ist vor allem in Ländern mit geringem Einkommen ein grosses Thema. Mit einem Verbot der giftigsten Pestizide könnten Zehntausende von Suiziden verhindert werden: In Sri Lanka zum Beispiel haben sich dadurch zwischen 1995 und 2015 insgesamt rund 93 000 weniger Suizide ereignet. Und dies ohne Einbussen in der landwirtschaftlichen Produktion. Die Kosten-Nutzen-Analysen von Pestizidverboten zeigen, dass die Massnahmen eine grosse Wirkung zeitigen – und im Vergleich zu anderen Massnahmen sehr günstig sind. Ein weiteres wichtiges suizidales Mittel, neben den Pestiziden, sind Schusswaffen. Auch hier gilt, wenn weniger Waffen zur Verfügung stehen, passieren weniger Suizide.

3 Wo funktioniert die Suizidprävention überdurchschnittlich gut?

In der WHO-Datenbank sind die Mortalitätsdaten der 194 Mitgliedstaaten enthalten. Doch knapp die Hälfte aller Staaten haben kein Todesregister, in das die Todesursache eingetragen wird. Hier greift die WHO auf mathematische Modelle zurück, die relativ grobe Zahlen liefern. Wir können in diesen Ländern deshalb gar nicht nachweisen, wie gut die Suizidprävention funktioniert. Doch bei den Ländern mit guter Datenqualität sticht zum Beispiel Japan heraus. Dort hat ein jahrzehntelanger Einsatz in der Suizidprävention zu einer deutlichen Verringerung der Zahlen beigetragen. Auch Schweden und Grossbritannien haben es nachweislich geschafft, ihre Suizidraten zu senken.

4 Wie schneidet die Schweiz im internationalen Vergleich ab?

Die Schweiz hat mit ihrem Nationalen Aktionsplan einen grossen Schritt gemacht. Lange hiess es: «Bei uns sind die Kantone zuständig, mit unserem föderalistischen System schaffen wir das nicht.» Aber dann ging es doch. In der Suizidprävention ist es wichtig, einen umfassenden Ansatz zu wählen, weil sich damit Sektoren – nicht nur der Gesundheitssektor, sondern auch das Bauwesen oder die Bildung – zusammendenken lassen.

Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Und auf die Evaluation, die zwar oft genannt, aber nur sehr selten auch wirklich gemacht wird. Die Evaluation wird meist als unangenehmes Anhängsel wahrgenommen, aber sie ist wesentlich, weil sich dadurch der Kreis schliesst: Projekte, die evaluiert werden, tragen zur Evidenz bei, auf die sich die WHO stützt, wenn sie neue Empfehlungen zur Suizidprävention herausgibt. Nur wenn schriftlich festgehalten wird, was funktioniert und was nicht, gibt es eine Weiterentwicklung.

5 Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Dass sich die Menschheit von der Vorstellung verabschiedet, dass man nichts gegen Suizide tun kann. Das ist ein hartnäckiger Mythos, der einfach nicht stimmt. Denn es gibt Hilfe. Und es gibt wirksame Massnahmen, um Suizide zu verhindern.

Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen nach einem Suizidversuch trauen, öffentlich über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dass sie erzählen, wie sie es geschafft haben, über ihre Probleme hinwegzukommen. Und wie sie in scheinbar aussichtslosen Situationen trotzdem neue Wege gefunden haben, um am Leben zu bleiben. Ich glaube, es braucht mehr von diesen Geschichten, die aufzeigen, dass Krisen vorbeigehen – und dass das Leben danach wieder besser wird. Solche positiven Botschaften könnten auch helfen, ein besseres Bewusstsein zu schaffen, dass Suizide im Prinzip vermeidbar sind.

“Loneliness is unfortunately a taboo subject in our society. Loneliness must become a public health concern, and all the more so since it is becoming more common in today’s individualistic society and is affecting a growing number of people.”

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Kontakt

Alexandra Fleischmann
Abteilung Psychische Gesundheit und Suchtmittel
Weltgesundheitsorganisation WHO

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