«Die Motivierung der Familie ist entscheidend für den Erfolg der Behandlung.»
Mai. 2012Hausärztinnen und Hausärzte
Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern. Dr. Nathalie Farpour-Lambert, stellvertretende leitende Ärztin für Sportmedizin und Fettleibigkeit bei Kindern und Präsidentin des Programms gegen Übergewicht an der kinder- und jugendmedizinischen Abteilung des Genfer Universitätsspitals, im Gespräch.
Wie ist die Situation bezüglich Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern heute?
Die jüngsten Jahrzehnte waren geprägt von tiefgreifenden Veränderungen unseres Lebensstils, welche zur Entstehung einer Fettleibigkeitsepidemie beigetragen haben. In der Schweiz weisen 12 bis 23% der Jugendlichen ein erhöhtes Körpergewicht auf, 2 bis 8% leiden unter Fettleibigkeit. Diese tritt in den Städten und bei Familien ausländischer Herkunft oder aus tieferen Bildungsschichten häufiger auf. Medizinische und psychosoziale Komplikationen machen sich oft schon früh bemerkbar: Herz-Kreislauf-Krankheiten, Glukose-Intoleranz und Diabetes Typ 2, Schlafapnoe, Verdauungs- oder orthopädische Probleme, Isolierung, Angst und Depression.
Der Kampf gegen ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel organisiert sich. Was passiert wo?
Die Vorbeugung beginnt in der frühen Kindheit oder bereits während der Schwangerschaft, und die Behandlung übergewichtiger Kinder wird sobald wie möglich vor der Pubertät eingeleitet. Ein gutes Zusammenspiel von Primär- und Sekundärprävention ist wichtig. Sie müssen die Bewegung bzw. den Bewegungsmangel, die Ernährung, das Schlafverhalten und psychosoziale Faktoren berücksichtigen. Das Verhalten der Kinder wird nicht nur durch ihre Familie, sondern auch durch ihre Umwelt beeinflusst. Deshalb ist ein interdisziplinärer Ansatz auf verschiedenen Ebenen erfolgversprechend (Familie, medizinische und weitere Fachleute, Schule/Krippe, Gemeinde, Regierung, Industrie). Die Ärztin oder der Arzt übernimmt also die wichtige Rolle, Risikokinder oder bereits von Übergewicht betroffene frühzeitig zu erkennen sowie ihre Betreuung und Behandlung in der Arztpraxis – zusammen mit weiteren Gesundheitsfachleuten aus der Region – einzuleiten.
Die Ziele der Behandlung sind einerseits, die Gewichtszunahme zu verlangsamen (Zunahme unter 3 kg/Jahr) und das Perzentil des Body Mass Index (BMI) zu vermindern, indem ein normales Wachstum gewährleistet, aber auch die psychologische Auswirkung der Krankheit reduziert wird. Die Einschränkungen bezüglich Nahrungsmittel verursachen viele Frustrationen und können zu gestörten Essgewohnheiten führen. Deshalb erfolgt die Behandlung heute durch ein interdisziplinäres Konzept (Medizin, angepasste körperliche Bewegung, Ernährungskunde und Psychologie), das auf drei Pfeilern beruht: einer ausgewogenen Ernährung (ohne strenge Diät), regelmässiger Bewegung und einer psychologischen Unterstützung. Verhaltensänderungen sind bei der ganzen Familie notwendig.
Wie kann die Ärztin oder der Arzt dem Übergewichtsrisiko vorbeugen?
Die Ärztin oder der Arzt berechnet systematisch bei den Routinebesuchen den BMI, trägt diesen auf die Gewichtskurven ein, um eine anormale Erhöhung des BMI zu erkennen. Adipositas-Risikokinder können durch eine detaillierte Familienanamnese identifiziert werden (Fettleibigkeit bei den Eltern, kardiovaskuläre Krankheiten, Diabetes Typ 2, Wachstumsverzögerungen, niedriges sozioökonomisches Niveau, afrikanische, hispanische oder asiatische Herkunft).
Die Rolle der Ärztin oder des Arztes besteht darin, die Kinder und ihre Familie zu informieren, zu motivieren und zu unterstützen, indem die Techniken der Motivierenden Gesprächsführung und der Kognitiven Verhaltenstherapie angewendet werden. Zuerst werden die Ursachen des Übergewichts eruiert, und anschliessend definiert der Arzt mit dem Kind und seiner Familie ein oder zwei realistische Zielsetzungen, die sich kurzfristig erreichen lassen. Er ermutigt sie bei erfolgten Verhaltensveränderungen und ruft die Botschaften in Erinnerung. Dabei sind Geduld und Ausdauer gefordert. Die Motivierung der Familie ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Behandlung.
Sind die Ärztinnen und Ärzte gut vorbereitet für diese Aufgabe?
Viele Ärztinnen und Ärzte denken, dass Ihnen die nötige Bildung zur Problematik der kindlichen Fettleibigkeit fehlt. Sie wünschen sich Tools, um die Familien informieren und motivieren zu können. Deshalb entwickelt das Bundesamt für Gesundheit zusammen mit Fachleuten für Adipositas bei Kindern und Erwachsenen entsprechende Erziehungswerkzeuge (Broschüren, praktische Karten, eine Internet-Plattform), um den Ärztinnen und Ärzten bei dieser schwierigen Aufgabe zu helfen.