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Ständerat Joachim Eder: «Mit dem Thema psychische Gesundheit kann man keine politischen Lorbeeren ernten.»

Ausgabe Nr. 113
Mai. 2016
Psychische Gesundheit

Interview Joachim Eder. Er vertritt seit fünf Jahren den Kanton Zug im Ständerat und engagiert sich seit Jahrzehnten für die Anliegen der psychischen Gesundheit und für die Prävention. «spectra» traf Ständerat Joachim Eder (FDP) im Bundeshaus zu einem Gespräch über die parlamentarische Gruppe «psychische Gesundheit», über den schweren Stand dieses Themas in der Politik – aber auch über mögliche Lösungen, um Vorurteile und Stigmatisierung zu überwinden.

« Die Unternehmen machten mit, als sie merkten, dass sich solche Programme mittel- bis langfristig auch finanziell auszahlen.»

« Als ein Berufskollege von mir in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, hatten viele meiner anderen Kollegen Mühe mit der Vorstellung, ihn zu besuchen. Hätte er ein Bein gebrochen, hätte man ihn wohl gerne besucht.»

« Notre société n’est pas encore assez sensibilisée aux troubles psychiques.»

« Für die Suizidprävention muss eindeutig mehr getan werden.»

« Wir dürfen uns und andere nicht auf die Produktivität reduzieren. Hier müssen wir umdenken. Das würde wahrscheinlich viele psychische Erkrankungen verhindern.»

spectra: Psychische Erkrankungen gehören in der Schweiz zu den häufigsten Leiden. Wird in unserem Land der psychischen Gesundheit angesichts dieser Tatsache genug Aufmerksamkeit geschenkt?

Joachim Eder: Nein, überhaupt nicht. Das ist auch der Grund, warum ich mich in meinen Ämtern als Regierungsrat in Zug und jetzt als Ständerat stark für die Gesundheitsförderung und die Prävention einsetze. Ich bin kein Mann der grossen Worte, aber ich habe zu Beginn meiner Amtszeit als Regierungsrat gesagt, dass wir schon genug Geld in die reparative Medizin und viel zu wenig in die Gesundheitsförderung und Prävention investieren würden, nämlich nur 2,3% der Gesundheitsausgaben. Das ist ein krasses Missverhältnis! Als Gesundheitsdirektor des Kantons Zug war es mir gelungen, der Gesundheitsförderung und Prävention eine höhere politische Priorität einzuräumen und auch die Regierung und das Parlament von der Notwendigkeit eines verstärkten Einsatzes zu überzeugen. Aber auf Bundesebene steht dieses Thema noch stark im Hintergrund. Vielleicht liegt der Grund darin, dass man damit keine politischen Lorbeeren ernten kann. Es fehlt vielfach am politischen Willen. Damit meine ich das Parlament und nicht den Bundesrat, denn drei Bundesräte Couchepin, Burkhalter und Berset hatten sich für das Präventionsgesetz stark gemacht. Leider war es der Ständerat, der diesem dann den Todesstoss gab. Er sagte zum Gesetz zwar Ja, entzog ihm aber über das knappe Nein zur Ausgabenbremse die finanzielle Basis. Das habe ich überhaupt nicht verstanden, vor allem weil der Ständerat ja die Kammer der Kantone ist.

Woran liegt es, dass Prävention in der Politik einen so schweren Stand hat?

Für viele Politiker ist Prävention gleichbedeutend mit Bevormundung und Freiheitsentzug. Diese Auffassung ist aus meiner Sicht natürlich völlig falsch. Als Gesundheitsdirektor habe ich immer grossen Wert darauf gelegt, unsere Aktionen zusammen mit nichtstaatlichen Organisationen durchzuführen, um bei der Bevölkerung eben nicht dieses Gefühl von staatlicher Bevormundung aufkommen zu lassen. Das war entscheidend für den Erfolg. Wir haben zum Beispiel zusammen mit dem Gewerbeverband und mit «Wirtschaft Zug» Programme für die betriebliche Gesundheitsförderung entwickelt und durchgeführt. Die Unternehmen machten mit, als sie merkten, dass sich solche Programme mittel- bis langfristig auch finanziell auszahlen. Man sollte keine Energie damit verschwenden, die bereits Bekehrten zu bekehren, sondern man muss jene überzeugen, die nicht an die Prävention glauben – aber das ist Knochenarbeit.

Wie sieht diese Knochenarbeit in Ihrem Fall aus?

Ich gehe persönlich auf die Präventionsgegner zu und suche das Gespräch. Und ich bin sehr hartnäckig. Man muss kämpfen und von der Sache absolut überzeugt sein. Im Kanton Zug hatte ich das Glück, die Behörden für die Gesundheitsförderung und Prävention gewinnen zu können. So war es zum Beispiel nicht so schwierig, bauliche Massnahmen zur Suizidprävention an den Lorzetobelbrücken oder Bahngleisen in der Nähe der psychiatrischen Klinik zu veranlassen, sicher auch, weil sie Teil eines nachvollziehbaren mehrjährigen Konzepts waren.

Sie haben die parlamentarische Gruppe «psychische Gesundheit» mitgegründet, der sie auch als Co-Präsident vorstehen. Was möchten Sie mit dieser Gruppe erreichen?

Man darf diese Gruppe nicht überbewerten, ist es doch eine von 250 parlamentarischen Gruppen. Ziel ist es, das Parlament für Themen rund um die psychische Gesundheit zu sensibilisieren. Wir sind zudem Bindeglied zwischen Parlamentariern und Fachleuten des Gesundheitswesens, die uns unterstützen. Die Gruppe hat etwa 20 Mitglieder aus allen Parteien und Landesteilen, wir haben auch ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis. Diese Konstellation war mir wichtig – Prävention und Gesundheitsförderung darf nicht nur Sache der Linken und Grünen sein. Wir haben mit Motionen und Vorstössen schon einiges erreicht, als Beispiel diene die Motion von Maja Ingold zur Suizidprävention. Da hörten wir anfangs von allen Seiten: Keine Chance! Dann haben wir im Hintergrund mit vielen Leuten gesprochen. Auch in der neuen Legislaturperiode sind wir nun sehr gut aufgestellt. Jeder und jede in der Gruppe ist zur Stelle, wenn es etwas zu verteidigen oder zu unterstützen gibt.

Welches sind heute die grössten Probleme im Bereich psychische Gesundheit?

Ein grosses Problem ist, dass wir noch weit von der Gleichstellung von psychischen und somatischen Erkrankungen entfernt sind. Als ein Berufskollege von mir in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, hatten viele meiner anderen Kollegen Mühe mit der Vorstellung, ihn zu besuchen. Hätte er ein Bein gebrochen, hätte man ihn wohl gerne besucht und noch eine Flasche Wein mitgebracht. Es fehlt in unserer Gesellschaft also an der Sensibilisierung für psychische Erkrankungen. Ein zweiter Punkt ist die Suizidprävention. Jedes Jahr nehmen sich knapp 1400 Menschen in der Schweiz das Leben. Zum Vergleich: 2014 gab es in der Schweiz 243 Verkehrstote, also deutlich weniger. Trotzdem wird für die Prävention von Verkehrsunfällen ein Vielfaches mehr investiert als für die Prävention von Suiziden, die zu einem grossen Teil die Folge von psychischen Krankheiten sind. Ich will keinesfalls Tote gegen Tote ausspielen, aber für die Suizidprävention muss eindeutig mehr getan werden. Dazu gehören auch Verbesserungen in der Arbeitswelt.

Stichwort Arbeitswelt: Wie kann man Unternehmen für Präventionsmassnahmen im Bereich psychische Gesundheit gewinnen?

Am Beispiel Zug kann man sehen, dass betriebliches Gesundheitsmanagement sehr gut von der Wirtschaft angenommen wird. Dabei geht es nicht etwa darum, Früchteschalen in den Pausenraum zu stellen oder ergonomisches Büromobiliar anzuschaffen. Es geht um Substanzielleres. Als Gesundheitsförderung Schweiz das Label «Friendly Work Space» eingeführt hatte, machten sehr viele Unternehmen und grosse Verwaltungsorganisationen mit. Ich habe den Eindruck, einige bedeutende Arbeitgeber haben die Wichtigkeit von betrieblicher Gesundheitsförderung längst erkannt. Man muss einfach offensiv auf die Wirtschafts- und Gewerbeverbände zugehen und mit ihnen zusammen Massnahmen erarbeiten. Prävention sollte nicht als staatliche Verordnung daherkommen, das löst Widerstand aus.

Wie sehen Sie die Rolle des Bundes im Bereich psychische Gesundheit? Sollte das Bundesamt für Gesundheit auch ver-stärkt mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten?

Meiner Meinung nach ja. Wenn man potenzielle Gegner für eine Sache gewinnen will, muss man auf sie zugehen und zusammen mit ihnen etwas entwickeln, dann schwindet automatisch der Widerstand.

Psychisch Kranke sehen sich mit einer ganzen Reihe von Stigmata und Vorurteilen konfrontiert. Wie kann man dagegen vorgehen?

Man muss kontinuierlich auf allen Ebenen und an allen Fronten kämpfen und Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten. Oft ist es auch so, dass die Leute rasch ihre Meinung ändern, sobald sich ein Schicksal in ihrem persönlichen Umfeld ereignet. Am Anfang meiner Zeit als Zuger Gesundheitsdirektor war Bundesrat Pascal Couchepin Vorsteher des Departements des Innern und damit Gesundheitsminister. Er wollte gar nichts wissen von Prävention im Bereich psychische Gesundheit. Er änderte seine Meinung, als der damalige Ständerat und FDP-Parteipräsident Rolf Schweiger ein Burnout erlitt. Danach war er überzeugt, dass man etwas für die psychische Gesundheit machen muss.

Wo sehen Sie als überzeugter Liberaler die Grenze zwischen der persönlichen Freiheit eines jeden Menschen, seine Gesundheit mit einem ungesunden Lebensstil aufs Spiel zu setzen, und der Verantwortung des Staates, für die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen?

Für mich ist die Selbstverantwortung oberstes Prinzip. Jeder Mensch muss für seine Handlungen und seine Unterlassungen geradestehen. Allerdings beginnt für mich diese Selbstverantwortung erst mit der Mündigkeit, deshalb setze ich mich auch für einen ausgedehnten und wirkungsvollen Jugendschutz ein. Aber zu Ihrer Frage: Die Grenze liegt dort, wo eine mündige Person mit ihrem Verhalten der Gesellschaft zur Last fällt, sei es finanziell oder auf eine andere Art. Dann muss sich der Staat einschalten und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. Manche würden ja so weit gehen, dass Patienten, die aufgrund ihres Fehlverhaltens Gesundheitskosten verursachen, diese selbst tragen sollten. Die parlamentarische Initiative Bortoluzzi forderte zum Beispiel, dass Komatrinker ihre Behandlungskosten selbst bezahlen müssen. Diese Initiative habe ich vehement bekämpft. Wenn wir dieses Prinzip im Gesundheitswesen zulassen, wird das nicht nur endlose Streitereien nach sich ziehen, sondern auch zu einem klaren Paradigmenwechsel führen. Es ist praktisch kaum möglich, abschliessend und eindeutig zu klären, was die Ursache für eine Krankheit war – eigenes Fehlverhalten, Vererbung oder sonst etwas.

Wo sehen Sie diese Grenze im Bezug auf Suizid beziehungsweise das Recht des Individuums, sein Leben selbst zu beenden?

Wir können leider mit den besten Brücken- und Gleissicherungen und den besten Präventivmassnahmen nicht verhindern, dass sich Menschen das Leben nehmen. Was nicht heisst, dass diese Sicherungen nichts bringen. Es ist beispielsweise erwiesen, dass jemand, der sich von einer Brücke in den Tod stürzen will, nicht auf eine andere Methode ausweicht, wenn ihm dieser Sprung durch bauliche Massnahmen verwehrt wird. Anscheinend haben suizidale Menschen eine ganz klare Vorstellung davon, auf welche Art sie sich das Leben nehmen wollen. Aber dies nur am Rande. Der Staat hat die Aufgabe, die psychische Gesundheit durch entsprechend positive Rahmenbedingungen zu fördern, zum Beispiel durch Früherkennungsinstrumente, durch die Sensibilisierung der Gesellschaft für diese Krankheiten, durch Reintegration von Erkrankten in die Gesellschaft oder durch die Unterstützung von Selbsthilfeorganisationen. Das sind alles staatliche Massnahmen, die nicht im Entferntesten etwas mit Bevormundung zu tun haben.

Bei der Sicherung von Eisenbahngleisen geht es neben der Verhinderung von Suiziden auch um die Verhinderung von Traumata von Lokführern.

Ja, ganz klar. Ich habe einmal an einer Veranstaltung der SBB teilgenommen, an der ein betroffener Lokführer von seinem Erlebnis erzählte. Das war sehr bewegend. Deswegen setze ich mich auch dafür ein, dass Betroffene vermehrt zu Botschaftern werden. Denn alles, was aus dem Mund eines Betroffenen kommt, ist viel eindrücklicher und wirksamer als vieles, was wir Politiker oder Fachleute sagen. Es ist natürlich schwierig, Botschafter zu finden, solange psychische Krankheiten noch so stark stigmatisiert sind. Und natürlich müssen sie sich auch gesundheitlich dazu in der Lage fühlen.

Oft werden zur Verübung von Suiziden Armeewaffen verwendet. Mit der Initiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» wollte man unter anderem auch Suiziden vorbeugen. Die Initiative wurde 2011 abgelehnt. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Das ist eine schwierige Frage für mich. Ich bin hin und her gerissen. Ich denke aber, es ist zu einfach, die Suizidthematik auf ein Waffenproblem zu reduzieren. Natürlich bin ich froh über jeden Suizid, der verhindert wird, aber deswegen von Staats wegen alle Waffen einzuziehen, finde ich übertrieben. Ich bin eher für freiwillige Massnahmen. Im Kanton Zug haben wir das gemacht und ich war erstaunt, wie viele ihre Waffen abgegeben haben.

Was wünschen Sie sich in Bezug auf das Thema der psychischen Gesundheit für die Schweiz in zehn Jahren?

Ich hoffe, dass den Kantonen wirklich bewusst ist, dass sie die Hoheit über das Gesundheitswesen haben und entsprechend aktiv werden, denn der Bund kann nur dort tätig sein, wo er eine gesetzliche Grundlage hat. Ich wünsche mir auch, dass wir in zehn Jahren nicht mehr darüber sprechen müssen, wie wir Arbeitgeber ins Boot holen, weil sie längst aus Überzeugung im Boot sind. Das käme einem Paradigmenwechsel gleich. Aufgrund eigener Erfahrungen in meinem kleinen, überschaubaren Heimatkanton denke ich, dass das durchaus möglich ist, denn es gibt in den Unternehmen und Wirtschaftsverbänden sehr viele vernünftige Leute.

Was wünschen Sie sich für den Umgang mit Betroffenen von psychischen Erkrankungen?

Dass wir uns mehr Zeit nehmen für Betroffene, für unsere Mitmenschen im Allgemeinen. Dass wir mehr aufeinander zugehen. Ich sage das bewusst als Überlebender des Zuger Attentats vom 27. September 2001. Ich habe mich schon vor diesem Erlebnis für die Förderung der psychischen Gesundheit stark gemacht, aber diese Grenzerfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich Zeit zu nehmen. Wir dürfen uns und andere nicht auf die Produktivität reduzieren. Hier müssen wir umdenken. Das würde wahrscheinlich viele psychische Erkrankungen verhindern. Weiter wünsche ich mir, dass Betroffene vermehrt den Mut finden, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschliessen. Ich sass einmal als Gast in einer solchen Gruppe. Da habe ich Unglaubliches erlebt. Ich wusste, dass auch noch andere Gäste und Fachleute da drinsitzen, aber ich konnte beim besten Willen nicht erkennen, welches die Gäste und welches die Gruppenmitglieder sind. Was ich damit sagen will: Viele Betroffene haben Angst, man sähe ihnen sofort an, dass sie ein psychisches Problem haben oder eine Selbsthilfegruppe besuchen. Aber dem ist überhaupt nicht so. Sie sind nicht anders als die sogenannt Gesunden – und so sollten wir auch miteinander umgehen.

Unser Gesprächspartner

Joachim Eder, Jahrgang 1951, arbeitete 26 Jahre lang als Sekundarlehrer und war auch als Drogenberater tätig. Daneben engagierte er sich im Sport, u.a. als Trainer der Nationalliga-A-Handballerinnen des LK Zug und der Schweizer Frauen-Nationalmannschaft.

Von 1983 bis 2001 war der Freisinnige im  Zuger Kantonsrat. Im Oktober 2001 übernahm Eder als neu gewählter Zuger Regierungsrat die Gesundheitsdirektion. 2002, 2006 und 2010 wurde er im Amt bestätigt, immer mit Spitzenresultaten. Im Amtsjahr 2007/08 stand er als Landammann dem Regierungsrat vor. Er präsidierte zudem die Zentralschweizer Gesundheitsdirektorenkonferenz sowie die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz.

Im Oktober 2011 wurde Joachim Eder in den Ständerat gewählt, worauf er als Regierungsrat zurücktrat. Er konzentriert sich seither ganz auf die Bundespolitik. Unter anderem ist er Vizepräsident der Kommission für Soziales und Gesundheit (SGK). Joachim Eder ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern.

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