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Gesundheitsfolgenabschätzung: Instrument einer nachhaltigen Politik

Ausgabe Nr. 83
Nov. 2010
Gesundheitsfolgenabschätzung

Multisektorale Gesundheitspolitik. Was der Natur lieb ist, sollte der menschlichen Gesundheit teuer sein: Nach der Umweltverträglichkeitsprüfung gewinnt die Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA) an Bedeutung. Mit ihrer Hilfe können in der Politik die möglichen Auswirkungen einer geplanten Massnahme auf die Gesundheit der Bevölkerung im Voraus abgeschätzt und beurteilt werden. Die Gesundheitsfolgenabschätzung schärft das Bewusstsein für gesundheitspolitische Anliegen auch in denjenigen politischen Bereichen, die ausserhalb der Gesundheitspolitik im eigentlichen Sinne liegen. Damit kann sie zu einem transparenten politischen Entscheidungsprozess beitragen und die politischen Rahmenbedingungen für die Gesundheit der Bevölkerung verbessern.

Die Qualität und die Effizienz der Gesundheitsversorgung und das individuelle Gesundheitsverhalten reichen heute nicht mehr aus, um den Gesundheitszustand einer Bevölkerung zu erklären. Neben der natürlichen Umwelt können auch wirtschaftliche und soziale Verhältnisse wie Einkommen, Bildung, Wohnverhältnisse oder soziale Netze von Freunden und Verwandten langfristig auf die Gesundheit einwirken und den Gesundheitszustand positiv oder negativ prägen. Diesen multisektoralen Blick auf die Gesundheit berücksich­tigen politische Entscheidungsträger jedoch noch zu wenig, wenn sie über wirtschaftliche und soziale Weichenstellungen diskutieren. Stattdessen beherrschen die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung die politischen Debatten. Mit der GFA soll der politische Entscheidungsprozess bereichert werden, ermöglicht sie doch, dass geplante Entscheidungen mit Blick auf ihren möglichen Nutzen und Schaden für die Gesundheit bewertet werden. Mit anderen Worten, die GFA soll vor allem im Voraus die gesundheitlichen Folgen eines politischen Entscheides abschätzen. Deshalb empfehlen Fachleute, eine GFA so früh wie möglich in der Politikformulierung durchzuführen, weil in dieser frühen Phase der Handlungsspielraum für Optimierungen, die Ausarbeitung von Varianten, Alternativen und flankierenden Massnahmen am grössten ist. Dabei darf man nicht der Illusion unterliegen, eine GFA könne mögliche Auswirkungen auf die Gesundheit exakt messen oder gar quantifizieren. Eine GFA stellt in einem solchen Aushandlungsprozess vielmehr möglichst genaue Szenarien und Alternativen auf und dient als ein ergänzendes Assessment-Instrument für einen umsichtigen, breit abgestützten Entscheidungsprozess (siehe hierzu auch die Abbildung: Die Schritte eines GFA-Prozesses). Ein solches Vorgehen führt zu qualitativ besseren und transparenteren Entscheidungen.

Wegbereiterin WHO
Die GFA wurde in den 1970er-Jahren von der Weltgesundheitsorganisation WHO aus der Erkenntnis heraus gefordert und gefördert, dass neben dem Zugang zu qualitativ hochstehenden präventiven und kurativen Leistungen Lebensbedingungen wie Frieden, sozialer Status, Bildung, Beschäftigung, Einkommen, Wohnen, Umwelt und Ernährung für die Gesundheit zentral sind. Mit der Betonung dieser sogenannten Gesundheits­determinanten hat die WHO ein Feld abgesteckt, in dem die GFA als Strategie und Instrument eingebettet ist – das Feld der multisektoralen Gesundheitspolitik. Gesundheitspolitik soll gemäss der WHO nicht isoliert betrieben, sondern mit andern Politikfeldern vernetzt und in geteilter Verantwortung hergestellt und aufrechterhalten werden. Auf den Einsatz einer GFA wirkt diese multisektorale Dimension in zweifacher Hinsicht: Zum einen hilft die GFA zu beurteilen, in welchem Ausmass gesundheitsferne Bereiche wie die Wirtschaftspolitik, die Umwelt- oder Raumplanungspolitik mit ihren Strategien und Massnahmen zu gesundheitsförderlichen Rahmenbedingungen beitragen. Zweitens kann die GFA aber auch zur Zielerreichung anderer Politikfelder beisteuern (siehe hierzu das Beispiel der Wasserversorgung in Südaus­tralien in dieser «spectra»-Ausgabe).
Auf europäischer Ebene haben in den letzten zwanzig Jahren insbesondere Grossbritannien und die skandinavischen Länder Konzepte einer multisektoralen Gesundheitspolitik entwickelt und zum Teil auch umgesetzt. So waren es Schweden und Grossbritannien, auf deren Initiative die Gemeinsame Landwirtschaftspolitik der EU wiederholt auf ihre Auswirkungen auf die Gesundheit untersucht wurde. Als Ergebnis dieser zwei GFA wurden Empfehlungen formuliert wie die Reduktion der Subvention von Rindfleisch, der Verzicht auf Subventionen besonders milchfetthaltiger Produkte und vermehrte Subventionen für die Produktion von Früchten und Gemüsen (siehe hierzu den Beitrag in dieser Ausgabe von «spectra»).

Erste Schweizer Schritte in den 1990er-Jahren
In der Schweiz gibt es vor allem auf kantonaler Ebene Fallbeispiele für GFA, insbesondere in den Kantonen Genf, Jura und Tessin. Auf Bundesebene und innerhalb des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wurde die multisektorale Gesundheitspolitik in den 1990er-Jahren zur Wegbereiterin der GFA. Als Wegweiser hin zu einer multisektoralen Gesundheitspolitik zählen die Teilnahme der Schweiz am Erdgipfel von Rio und die Unterzeichnung der «Agenda 21» (1992), die bundesrätliche «Strategie Nachhaltige Entwicklung» (1997), das Nationale Aktionsprogramm Umwelt und Gesundheit des BAG (1997– 2007), die Platzierung des Themas Gender Health innerhalb des BAG (seit 1999), die Strategie Migration und Gesundheit (seit 2002) sowie das Leitbild des BAG für eine multisektorale Gesundheitspolitik (2005). Als jüngste Wegweiser mögen der Entwurf eines Bundesgesetzes für Prävention und Gesundheitsförderung (2009) sowie der Strategiebericht des Bundesrats zur Armutsbekämpfung (2010) gelten. Was den Entwurf Präventionsgesetz anbelangt, kann der Bundesrat bei Parlaments- und Bundesratgeschäften von besonderer Tragweite im Einzelfall eine GFA durchführen lassen.

Grosse Herausforderung
Multisektorale Gesundheitspolitik ist auf Nachhaltigkeit und Langfristigkeit ausgelegt. Dies fordert Weitsicht, Offenheit, Interesse an den jeweils anderen Geschäftsfeldern, Bereitschaft zu Zusammenarbeit und ein Umdenken von allen Beteiligten. Aber noch denken viele politische Akteure, dass allein die Gesundheitsbehörden für Gesundheitspolitik zuständig sind. Zudem sind gesundheitspolitische Interessen in andern Sektoren naturgemäss nicht von vorrangiger Bedeutung; nicht selten stehen sie sogar in Konflikt mit anderen Politiken. Die oftmals grosse Verzögerung, mit der die Gesundheitsfolgen einer politischen Intervention eines anderen Sektors erkennbar werden, vermindert zusätzlich die Bereitschaft, die langfristigen Auswirkungen bei heutigen Entscheiden mitzuberücksichtigen. Die grosse Stärke – aber auch die grösste Herausforderung – des multisektoralen Ansatzes und der GFA ist es daher, im Austausch mit gesundheitsfernen Politikbereichen Win-Win-Lösungen zu ermöglichen, welche nachhaltig zur Gesundheit der Bevölkerung beizutragen vermögen.

Leitfaden zur Gesundheitsfolgenabschätzung in der Schweiz

Die Schweizer Plattform zur Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA-Plattform) hat zusammen mit Gesundheitsförderung Schweiz und koordiniert durch equiterre einen Leitfaden für GFA herausgegeben. Er enthält Informationen zu folgenden Themenbereichen:
– Theoretische Grundlagen der GFA, ausgehend vom Konzept der multisektoralen Determinanten von Gesundheit
– Eigenschaften des GFA-Instruments und seine Einbindung in den Entscheidungsprozess
– Synergien mit anderen Instrumenten
– Bezug zur nachhaltigen Entwicklung, die den allgemeinen strategischen Rahmen der GFA darstellt
– Bedeutung der GFA auf schweizerischer Ebene

Download des Leitfadens und weitere Informationen zur GFA-Plattform
unter www.impactsante.ch

Raumplanungsprojekt Frankreich-Waadt-Genf

Fallbeispiel GFA. Ein gemeinsames Agglomerationsprojekt der Kantone Genf und Waadt sowie Frankreichs wurde 2007 einer prospektiven Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA) unterzogen. Untersucht wurden die Bereiche Verkehrsmittel, Naherholungsgebiete, Sicherheit auf den Strassen, Luftqualität und Lärm hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit. Die GFA kam zum Schluss, dass das geplante Agglomerationsprojekt der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Bevölkerung langfristig sehr zuträglich wäre, wenn bei der Weiterbearbeitung des Projekts folgende GFA-Empfehlungen berücksichtigt würden: der Ausbau des Fahrrad­netzes, Geschwindigkeitsbegrenzungen, der Ausbau der Naherholungsgebiete sowie eine bessere Verteilung von Arbeit und Wohnen im Agglomerationskern und in den regionalen Zentren. Mit der Umsetzung dieser Empfehlungen könnten auf den Zeithorizont 2030 berechnet Gesundheitskosten von jährlich 163 Millionen Franken vermieden werden.

Genf: Vorreiter in Sachen GFA
Genf war neben Freiburg, Jura, Wallis und dem Tessin einer der ersten Kantone, die GFA-Initiativen vorangetrieben haben. Unter anderem hat Genf ein Instrument für die Durchführung von GFA mitentwickelt und in seinem Gesundheitsgesetz verankert. Demnach kann der Regierungsrat heute diejenigen Gesetzesentwürfe einer GFA unterziehen, bei denen mit negativen Folgen für die Gesundheit zu rechnen ist.

Kontakt

Wally Achtermann, Abteilung Multisektorale Projekte, wally.achtermann@bag.admin.ch

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