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«Gesundheit ist ein hohes, aber nicht immer das höchste Gut.»

Ausgabe Nr. 83
Nov. 2010
Gesundheitsfolgenabschätzung

Interview mit Ignazio Cassis. Was denkt der Tessiner FDP-Nationalrat und Gesundheitspolitiker Ignazio Cassis über die Chancen und Risiken der Einführung einer Gesundheitsfolgenabschätzung in der Schweiz?

spectra: Herr Cassis, was ist eine Gesundheitsfolgenabschätzung in Ihren Augen– eine Philosophie, eine Strategie oder ein praktisches Instrument? 

Ignazio Cassis: Ein wenig von allem. Die Gesundheitsfolgenabschätzung ist einerseits etwas sehr Selbstverständliches, denn wer würde absichtlich eine Politik machen, die gesundheitsschädigend ist? Natürlich niemand. Für mich gilt die Philosophie, dass jede politische Aktion auch der Gesundheit des Menschen Rechnung tragen muss. Denn wir gehen davon aus, dass Gesundheit nötig ist, damit die Menschen glücklich leben können. Gesundheit ist zwar keine Garantie dafür, dass man glücklich ist, aber für die Mehrheit der Bevölkerung und auch für viele Politiker ist Gesundheit eine Voraussetzung zum Glücklichsein. Demzufolge ist die Abschätzung von Gesundheitsfolgen eine Philosophie, die selbstverständlich sein sollte. Aber wir wissen auch, dass politische Entscheidungen nicht immer in diesem Sinne gefällt werden.
Die Gesundheitsfolgenabschätzung ist auch ein Instrument. Ich meine hier nicht in erster Linie das technische, sondern das politische Instrument. Als solches kann es machtpolitisch missbraucht werden. Ein Gesundheits­mi­nis­ter, der nach Macht strebt, spricht von Gesundheitsfolgenabschätzung und verurteilt Projekte anderer Departemente wie Strassenbau, Telekommunikation oder Militärübungen als gesundheitsschädigend. Nichtgesundheitspolitiker fürchten sich vor der Einmischung der Gesundheitspolitiker.

Es geht also bei der Gesundheitspolitik um das Glück der Menschen, um ein kollektives Glück. Bei der Gesundheitsfolgenabschätzung taucht schnell der Vorwurf des Gesundheitsimperialismus auf. Ist Gesundheit wichtiger als zum Beispiel Umwelt oder Wirtschaft?

Diesen Vorwurf hört man tatsächlich häufig. Man spricht von Gesundheitsimperialismus, Gesundheitstotalitarismus oder sogar Gesundheitstalibanismus. Und in der Tat hat jedes interessante Instrument auch das Potenzial zum Missbrauch.
Früher bin ich immer davon ausgegangen, dass Gesundheit selbstverständlich ein wichtiges Ziel ist. Aber man muss aufpassen, nicht paternalistisch zu wirken und allen unbedingt die eigene Weltanschauung beibringen zu wollen unter dem Motto «Gesundheit über alles». Man darf sicher das Kind nicht mit dem Bad ausschütten: Wie jedes Instrument hat auch die Gesundheitsfolgenabschätzung ihre unerwünschten Nebenwirkungen.

Wenn Sie die Gesundheitsfolgenabschätzung in einen Kontext bringen mit anderen Instrumenten dieser Art wie die Umweltverträglichkeitsprüfung, welche Bedeutung hat diese Gesundheitsfolgenabschätzung?

Für mich ist die Gesundheitsfolgenabschätzung nach der Umweltverträglichkeitsprüfung die zweite Folgenabschätzung, die nun politisch wirklich zur Diskussion steht. Mit der Umweltverträglichkeitsprüfung hat man vor rund dreissig Jahren angesichts der Ölkrise und des einsetzenden Baumsterbens begonnen. Und sie ist auch etwas einfacher. Was Umwelt ist, lässt sich ziemlich gut beschreiben und messen. Was Gesundheit ist, wissen wir letztlich immer noch nicht genau. Jeder Mensch hat da eine andere Vorstellung, Gesundheit ist ein sehr subjektiver Begriff. Das ist übrigens auch ein grosses Problem beim Krankenversicherungsgesetz. Denn wenn Gesundheit unklar ist, ist auch Krankheit unklar. Und wenn Krankheit unklar ist, wissen wir nicht genau, was wir versichern müssen und welches Risiko wir überhaupt versichern wollen.

«Nichtgesundheitspolitiker fürchten sich vor der Einmischung der Gesundheitspolitiker.»

Als die Gesundheitsfolgenabschätzung Ende der 1980er-Jahre auftauchte, war ich sofort neugierig. Ich habe mich gefragt, wie man überhaupt die möglichen Gesundheitsfolgen eines politischen Entscheids messen kann. Meine Haltung war zu Beginn skeptisch. Erst später habe ich die dazugehörenden Methoden und Instrumente entdeckt: Dabei ist auch mir klarer geworden, was man damit machen kann. Diese zunehmende Klarheit konnte die Gesundheitsfolgenabschätzung auf die politische Agenda setzen.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es wird immer wieder politische Entscheide gegeben, bei denen die Sorge um die Gesundheit nicht im Zentrum steht. In meinen Augen muss sie auch nicht immer im Zentrum stehen. Gesundheit hat nicht den höchsten Wert in meiner Weltanschauung, aber sie muss Teil der politischen Diskussion sein. Sie ist einer der Faktoren, die man berücksichtigen muss. Daneben gibt es aber auch die Umwelt, die Sicherheit, den Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und weitere Faktoren. Je nach Situation können die Akzente anders gesetzt werden.

Bei einem grösseren Dossier, sagen wir bei einem Strassenbauprojekt, hiesse das also, dass man das Projekt aus der Sicht der Gesundheit, der Mobilität, der Industrie, der Wirtschaft, der Kleinunternehmen und so weiter betrachtet und den jeweiligen Nutzen und Schaden des Projekts abschätzt. Daraus ergäbe sich dann eine Diskussion und eine Güterabwägung, wobei einmal zugunsten der Gesundheit, ein andermal vielleicht zugunsten der Umwelt oder der Wirtschaft entschieden würde. Stellen Sie sich den politischen Entscheidungsprozess in etwa so vor?

Ja, wie gesagt, die Gesundheit ist eines der Elemente, die berücksichtigt werden müssen. Es ist sicher ein Vorteil, dass man den Begriff Gesundheitsfolgenabschätzung erfunden, definiert und in den politischen Diskurs eingebracht hat. Es ist aber immer eine Abwägung der Interessen, und nicht immer ist die Gesundheit von höchstem Interesse.

Ein Beispiel?

Als ich in der medizinischen Poliklinik in Lausanne arbeitete, das war Mitte der 1990er-Jahre, kamen viele Immigranten aus Bosnien, darunter viele ältere Frauen, die ihren Mann und ihren Sohn im Krieg verloren hatten. Ein Oberarzt sagte mir damals, man müsse bei ihnen unbedingt das Cholesterin, den Blutdruck und so weiter kontrollieren. Aber für diese Frauen waren das absolut keine Probleme, das war für sie Nonsens. Ihr Problem war, wieder einen Sinn in ihrem Leben zu finden, mit was für einem Cholesterinspiegel, war ihnen absolut egal. Ich bringe dieses Beispiel, um die Problematik auf der Kollektivebene zu verdeutlichen. Wenn eine Bevölkerung arm ist und nicht genügend zu essen hat, ist es nicht so wichtig, ob eine Strasse vielleicht Lärm verursacht und eventuell das Gehör beeinträchtigen könnte.

«Gesundheit hat nicht den höchsten Wert in meiner Weltanschauung, aber sie muss Teil der politischen Diskussion sein. Sie ist einer der Faktoren, die man berücksichtigen muss.»

Je höher eine Gesellschaft insgesamt in der Bedürfnispyramide steigt, desto mehr kann sie es sich leisten, Gesundheitsfragen näher und differenzierter zu betrachten. Bei politischen Entscheiden handelt es sich immer um eine Werteabschätzung in einem bestimmten Lebensbereich: Man muss sich ständig fragen, wie hoch ist heute in dieser oder jener Situation der Wert der Gesundheit? Früher bin ich davon ausgegangen, dass Gesundheit den höchsten Wert hat. Heute bin ich mir bewusst, dass dies nicht immer so sein darf: Gesundheit ist ein Mittel, nicht per se ein Ziel!

Wie hat sich dieser Gesinnungswandel bei Ihnen vollzogen?

Oft sieht man nur den Sektor, in dem man tätig ist. Das war bei mir auch so. Ich war viele Jahre im Bereich Public Health tätig. Man liest die Realität mit einem ganz bestimmten Wortschatz aus seinem eigenen Fach. Wenn man aber auch andere Wortschätze zur Verfügung hat, sieht die Welt plötzlich anders aus. Letztlich geht es immer um eine Abwägung von Interessen, von Ideologien, von Werten.

Das heisst also, dass die Vielfalt der Instrumente begrüssenswert ist. Denn es zwingt Gremien dazu, sich über die Güterabwägung und die verschiedenen Aspekte eines Projekts Gedanken zu machen. Macht das die Entscheidprozesse transparenter?

Die meisten Bundesgesetze entstehen ja als Entwürfe in der Verwaltung. Wir Parlamentarier erhalten die entsprechenden Botschaften, in denen die Folgen eines zukünftigen Gesetzes für die verschiedenen Bereiche aufgzeigt werden. Zum Beispiel die Folgen für die Wirtschaft, für das Budget des Bundes, für die Beziehungen zu Europa, für das Wirtschaftswachstum und so weiter. Warum sollen wir uns also nicht auch über die Folgen für die Gesundheit Gedanken machen? Natürlich darf man das nicht übertreiben und für jede Botschaft ein nationales Forschungsprojekt lancieren. Das wäre unverhältnismässig. Dennoch muss man sich die Mühe machen, Instrumente zu entwickeln, die bei Vorhaben von grösserer Tragweite die möglichen Gesundheitsfolgen beschreiben können. Dies könnte auch die politischen Diskussionen im Parlament im Sinne einer Güterabwägung transparenter machen.

Wenden wir uns dem eigentlichen Instrument zu: Wie kann es – ganz pragmatisch gesehen – in die verschiedenen Ämter der öffentlichen Verwaltung eingebettet werden, damit es seine Wirkung entfaltet?

Ganz sicher muss jemand die Führung übernehmen: in meinen Augen das Gesundheitsamt auf kantonaler Ebene und das Bundesamt für Gesundheit auf Bundesebene. Sie müssen den Lead haben, die Methodik entwickeln, good practice dokumentieren, internationale Entwicklungen beobachten und so weiter. Anhand einer einfach zu handhabenden Checkliste sollte es Ämtern, die zum Beispiel an einem neuen Transportgesetz oder Arbeitslosengesetz schreiben, möglich sein, rasch und pragmatisch herauszufinden, ob das jeweilige Gesetz etwas mit Gesundheitsfragen zu tun hat. Wenn ja, sollte eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe das weitere Vorgehen festlegen. Dabei gilt es zu vermeiden, dass Gesundheit per se einen höheren Stellenwert als alle anderen Politikfelder einnimmt – und hier profitiere ich von meinen Erfahrungen als Tessiner Kantonsarzt. Damit riskiert man nur, dass sich gesundheitsferne Ämter aus Angst vor einem Machtkonflikt verschliessen. Damit erreicht man letztlich nichts. Nur mit einem pragmatischen, unvoreingenommenen Vorgehen kann sich die Kultur der Gesundheitsfolgenabschätzung verbreiten und verwurzeln.

Können Sie sich vorstellen, dass die Gesundheitsfolgenabschätzung einen ähnlichen Stellenwert bekommt wie die Umweltverträglichkeitsprüfung?

Absolut, ja. Für mich war das schon von Beginn weg der Gedanke. Heute ist die Umweltverträglichkeitsprüfung absolut normal. Die jüngere Generation ist damit aufgewachsen. Sie kann sich gar nicht vorstellen, dass man ein grosses Projekt beginnt, ohne dessen Einfluss auf die Umwelt zu prüfen. Das meine ich mit Kultur. Die Gesundheitsfolgenabschätzung steht hier erst am Anfang.

Was braucht es, damit diese Selbstverständlichkeit der Gesundheitsfolgenabschätzung wachsen kann? Braucht es nicht einen gewissen Druck, zum Beispiel ein Obligatorium oder eine Regel, die sie zum Standard macht?

Oh, nein. Hände weg vom Obligatorium! Sonst ist die Gesundheitsfolgenabschätzung tot. In der Schweiz werden Obligatorien sehr schlecht aufgenommen. Und auch das geplante Präventionsgesetz sieht Gott sei Dank kein Obligatorium vor, sondern überlässt es dem Bundesrat, im Einzelfall eine Gesundheitsfolgenabschätzung bei Projekten von besonderer Tragweite durchführen zu lassen.

Erstrebenswert ist aber eine Kultur der multisektoralen Denkweise: über den eigenen Zaun seines Sektors zu denken, auch für die anderen mitzudenken und ein Bewusstsein für die Folgen des eigenen Handelns zu entwickeln. Das gilt natürlich auch für die Gesundheitspolitik, die zum Beispiel die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Folgen ihrer Massnahmen abschätzen muss. Diese multisektorale Denkweise zu verbreiten, ist sicher eine grosse Herausforderung.

Ja. Für mich ist die Gesundheitsfolgenabschätzung – etwas spitz formuliert – eine Art Trojanisches Pferd, mit dessen Hilfe die multisektorale Denkweise Verbreitung finden kann. Mit Blick auf die Gesundheitspolitik hiesse dies, wegzukommen von der reinen Gesundheitsversorgungspolitik hin zu einer echten Gesundheitspolitik, in die auch wirtschaftliche, soziale und finanzielle Aspekte hineinfliessen. Umgekehrt werden Wirtschafts- und Finanzfachleute bei der Durchführung einer Gesundheitsfolgenabschätzung merken, dass einige ihrer Projekte mit Gesundheit sehr viel zu tun haben. In einer solchen Situation entsteht dann eben Gesundheitspolitik unter Mitwirkung verschiedener Departemente und nicht nur im Departement des Innern.

 «Nur mit einem pragmatischen, unvoreingenommenen Vorgehen kann sich die Kultur der Gesundheitsfolgenabschätzung verbreiten und verwurzeln.»

Die Gesundheitsfolgenabschätzung ist für mich ein erster Schritt, um das Bewusstsein für Gesundheitsfragen ausserhalb der klassischen Gesundheitsbereiche (sprich: Gesundheitswesen) zu fördern. Man muss das ganz sanft tun, sicher nicht mit Obligatorien, aber vielleicht mit Anreizen und Humor. Die Leute müssen ohne Angst überzeugt werden, dass die Gesundheitsfolgenabschätzung eine gute und sinnvolle Sache ist.
Mein Fazit lautet darum: Gesundheitsfolgenabschätzung ist sowohl Philosophie als auch Instrument. Gesundheitsfolgenabschätzung ist eine Art Trojanisches Pferd, um nicht bloss Krankenversorgungspolitik, sondern multisektorale Gesundheitspolitik betreiben zu können. Und: Gesundheitsfolgenabschätzung muss pragmatisch und angemessen anhand einfacher Pilotprojekte eingeführt werden. Vertrauen und Respekt vor anderen Politiken sind Voraussetzung dafür, dass das Prinzip der Gesundheitsfolgenabschätzungen akzeptiert wird.

Drehen wir den Spiess zum Schluss einmal um: Wie sähe heute das schweizerische Gesundheitssystem aus, wenn die finanziellen Auswirkungen gesundheitspolitischer Massnahmen konsequent abgeschätzt werden müssten?

Aber das machen wir ja immer! Wir sprechen regelmässig über die finanzielle Auswirkung gesundheitspolitischer Massnahmen: Die Umstrukturierung des Spitalwesens hat mit Finanzen zu tun, die Einführung von Managed care auch, ebenso die Konzentration der Spitzenmedizin. Hier besteht kein Handlungsbedarf, wir sprechen genügend über Geld. Wir sollten hingegen vermehrt über die Gesundheitsfolgen der Finanzpolitik oder der Sozialpolitik sprechen. Welche Gesundheitsfolgen hat beispielsweise eine zu knappe oder zu grosszügige Arbeitslosenversicherung?

«Das vernetzte Denken fehlt, ist aber so unheimlich wichtig.»

Darüber spricht man nicht. Dieses vernetzte Denken fehlt, ist aber so unheimlich wichtig. Mir selber hat es auch lange gefehlt, und ich beginne es erst heute zu entwickeln. So sind bislang graue Gebiete für mich heute etwas farbig geworden, und ich habe verstanden, dass mein Bereich nicht das Zentrum der Welt und alles andere nicht einfach Nebensache ist.

Unser Gesprächspartner

Dr. med. Ignazio Cassis, Jahrgang 1961, stammt aus dem Tessiner Dorf Sessa (Malcantone, westlich von Lugano).
Nach dem Medizinstudium an der Universität Zürich (Arztdiplom 1987) spezialisierte er sich in Public Health, Innere Medizin, sowie in Prävention und Gesundheitswesen. Von 1997 bis 2008 war er Kantonsarzt im Tessin und Mitglied der eidgenössischen Kommissionen für Aids- und Drogenfragen. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Lausanne und Lugano. In der Ärztevereinigung FMH übt Cassis seit 2008 das Vizepräsidium aus.
Seit 2004 ist Cassis Gemeinderat von Collina d’Oro. 2007 wurde der Tessiner FDP-Politiker in den Nationalrat gewählt. Dort ist er unter anderem Mitglied der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit.
Cassis wohnt in Collina d’Oro und ist verheiratet.

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