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«BIG ist ein interessantes Projekt, das in die richtige Richtung geht»

Ausgabe Nr. 91
Mär. 2012
Gesundheit im Gefängnis

Interview mit Hans-Jürg Käser. Wo drückt der Schuh am meisten, wenn es um Gesundheit im Gefängnis geht? Wie lassen sich die Ansprüche von Sicherheits- und Gesundheitsbehörden unter einen Hut bringen? Der Berner Regierungsrat Hans-Jürg Käser kennt sich aus mit der Situation von Menschen hinter Gittern.

spectra: Herr Käser, als Polizei- und Militärdirektor sind Sie verantwortlich für die öffentliche Sicherheit. Welchen Stellenwert geben Sie der öffentlichen Gesundheit, insbesondere der Gesundheit hinter Gittern?

Hans-Jürg Käser: Das ist eine spannende Frage. Ich habe nicht zuletzt durch das Projekt BIG – Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis – realisiert, wo die Probleme liegen. Für mich und die ganze Direktion ist der Straf- und Massnahmenvollzug eine enorme Herausforderung. Aber nicht primär, was die Gesundheit betrifft, sondern was die Einweisung der Verurteilten an den richtigen Ort betrifft. Natürlich sehe ich aber sehr wohl, dass viele Gefängnisinsassen gesundheitliche Defizite haben. Besonders im psychischen, aber auch im somatischen Bereich.

Sie setzen sich stark für das Projekt BIG ein. Wie ist es zu dieser Sensibilität für dieses spezielle Anliegen gekommen?

Ich weiss durch meine häufigen Besuche in den Anstalten und Gefängnissen im Kanton Bern und durch die vielen Gespräche mit Leuten der Gesundheitsdienste, wie es um die Gesundheit in unseren Gefängnissen steht – und die übertreiben meines Erachtens nicht. Am Anfang meiner Amtszeit dachte ich, na ja, klar geht es den Gefängnisinsassen nicht so gut, die sind halt eingesperrt. Aber es ist tatsächlich so, und das bestätigt auch mein persönlicher Eindruck, dass im Strafvollzug überdurchschnittlich viele Menschen gesundheitliche Probleme haben. Wir können nicht einfach so tun, als wäre das kein Problem.

Die Interessen der Justiz- und der Gesundheitsbehörden sind oft gegenläufig. Das heisst, Freiheitsentzug und Sicherheits­aspekte sind für die Gesundheit der Insassen nicht unbedingt förderlich. Was tun Sie für einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Interessengruppen?

Ich denke, wir machen sicher auch Fehler, aber wir machen im Rahmen des Settings das Optimum. Die Aufgabe meiner Direktion ist es, die Straffälligen in den Institutionen zu hüten. Und gemäss Artikel 75 des Strafgesetzbuches sollen die Insassen dabei auf ihre Entlassung und ein Leben in Freiheit vorbereitet werden. Vor diesem Hintergrund müssen die Gesundheitsdienste im Rahmen des Settings ein Optimum an medizinischer Unterstützung gewährleisten.

 «Im Strafvollzug haben überdurchschnittlich viele Menschen gesundheitliche Probleme. Wir können nicht einfach so tun, als wäre das kein Problem.»

Die Bewachungsstation am Inselspital Bern ist ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Justiz. Das ist eine schweizweit einmalige Institution, in der Gefängnisinsassen auf einer hohen Sicherheitsstufe medizinisch betreut werden können.

Sie haben die Wiedereingliederung angesprochen. Denken Sie, dass die Menschen kränker aus dem Strafvollzug rauskommen, als sie reingekommen sind? Oder anders gefragt: Ist der Strafvollzug eine gute Gelegenheit, Menschen zu mehr Gesundheit zu verhelfen?

Eine schwierige Frage. Was Gefängnisinsassen auf jeden Fall bekommen, ist Struktur. Für viele Eingewiesene ist allein das Erlernen einer einigermassen geregelten Tagesstruktur ein Fortschritt für ihre Gesundheit. Das fängt schon bei drei regelmässigen Mahlzeiten an. Ich wage aber nicht zu behaupten, dass der Strafvollzug generell gut für die Gesundheit ist. Aber der Strafvollzug bietet immerhin die Möglichkeit zur Einsicht, sein Leben auf eine andere Schiene umzuleiten. Ich erlebe viele Gefangene, die diese Chance nicht sehen, aber auch viele, die ihre Chance nutzen wollen. Ich habe in diesem Zusammenhang schon viele Gespräche mit Gefangenen geführt. Zum Beispiel mit einem Mann, der seit 53 Jahren verwahrt ist. Er hatte eine Voliere und draussen an der Türe klebte ein Zettel, auf dem stand: «Achtung, Vögel frei!» Als wir ihn besuchten, sagte er als Erstes: «Schauen Sie, ich lasse die Vögel gerne aus dem Käfig, damit sie frei herumfliegen können. Aber keine Angst, sie können nicht wegfliegen, es hat Gitter an den Fenstern.» Das sagt einer, der 53 Jahre verwahrt ist. Er hat den Kopf nicht in den Sand gesteckt. Er hat sich ein Stück Humor bewahrt und seine Würde.

Welches sind die dringlichsten Probleme und Fragen bezüglich Gesundheit im Gefängnis?

Das grundsätzliche Problem ist: Der Strafvollzug hat keine Lobby. Niemand horcht interessiert auf, wenn Behörden, sei es nun meine Direktion oder das Strafvollzugskonkordat, daherkommen und Investitionskredite brauchen für Bauten oder Personal für den Strafvollzug. Dabei sind solche Investitionen eben nötig. Die Verurteilten, die irgendwo ihre Strafe absitzen müssen, sind nicht weniger geworden. Uns fehlt es an Personal – nicht nur im Gesundheitsbereich, sondern in allen Bereichen. Wir haben eine sehr dünne Personaldecke, und für das Budget 2012 hat die Regierung ein Stellenmoratorium beschlossen. Einzige Ausnahme ist das neue Regionalgefängnis Burgdorf, das im April eröffnet wird. Da gibt es 25 neue Stellen. Zudem wird neu eine Ärztin, die bisher für uns in der Bewachungsstation gearbeitet hat, die Gesundheitsdienste in allen Regionalgefängnissen koordinieren und fachlich betreuen. Das ist ein wichtiger Meilenstein in der Optimierung des Gesundheitswesens in den bernischen Anstalten und Gefängnissen. Das wird den Dialog zwischen Justiz und Medizin stark verbessern.

Zu den staatlichen Aufgaben im Bereich Gesundheit gehört auch die Prävention. Wie gut funktioniert die Prävention in den Schweizer Gefängnissen?

Für Prävention im umfassenden Sinne reichen die Massnahmen wohl nicht sehr weit. Mir wurde einmal ein Konzept präsentiert, wie man Insassen das Rauchen abgewöhnen könnte. Aber da muss ich abwinken. Der Aufwand für solche Projekte ist zu gross und steht in keinem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag. Das kann ich nicht machen. Wenn Sie also Prävention im umfassenden Sinn meinen, denke ich nicht, dass der Strafvollzug einen grossen Beitrag leisten kann.

Immerhin haben die bernischen Gefängnisse vor 15 Jahren international Pionierruhm erreicht, als sie die Spritzenabgabe zur Verhütung von Infektionskrankheiten eingeführt haben. Gibt es in diesem Bereich neue Anstrengungen?

Soweit ich weiss, werden die bestehenden Massnahmen weitergepflegt. Und zwar aus der einfachen Erkenntnis heraus, dass es die drogenfreie Gesellschaft nicht gibt und nie geben wird. Die Spritzenabgabe war damals ein mutiger und richtiger Entscheid. Es gibt diesbezüglich bis heute kaum je Probleme.

Wie erleben Sie die verschiedenen Mentalitäten von Gefängnis- und medizinischem personal?

Ich erlebe das medizinische Personal in unseren Gefängnissen eindeutig als Teil des Teams. Alle Bereiche, sei es der Sicherheitsdienst oder die Betreuung, versuchen, am gleichen Strick zu ziehen. Es gibt selten Probleme oder Konflikte aufgrund von unterschiedlichen Weltanschauungen.

Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Projekt BIG (Bekämpfung von Infektionskrankheiten)? Was hat man erreicht, was will man noch erreichen?

BIG ist sehr breit abgestützt. Das Bundesamt für Gesundheit und das Bundesamt für Justiz haben das Projekt lanciert und man hat die Zustimmung der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK). Derzeit liegt BIG quasi «ante portas» bei der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Jemand muss ja die Kosten tragen, und das werden die Kantone sein. Ich persönlich finde BIG ein interessantes Projekt, das in die richtige Richtung geht. Gerade wegen der unterdurchschnittlichen Gesundheit der Strafgefangenen. Es bleibt zu klären, wo man das geplante Kompetenzzentrum anbindet.

 «Am Tag X sind diese Menschen wieder mitten unter uns. Wenn sie dann mit nichts dastehen, ist das schlecht für die ganze Gesellschaft.»

Ich denke, das SAZ, also das Schweizerische Ausbildungszentrum für Strafvollzugspersonal, wäre der richtige Ort. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit dem SAZ einen Weg finden und das Kompetenzzentrum realisieren können. Die Kosten für dieses wohlgemerkt kleine Kompetenzzentrum sollten nicht matchentscheidend sein. Aber der Nutzen, nämlich der Erfahrungsaustausch, ist ganz wesentlich für einen Fortschritt im Bereich Gefängnisgesundheit.

Ein schwieriges Thema bezüglich Gefängnisgesundheit sind Depressionen und andere psychische Erkrankungen. Was für Ansätze kennen Sie im Umgang mit psychischen Problemen bei Gefängnisinsassen?

Die Statistiken belegen unseren Eindruck, dass immer mehr Eingewiesene psychische Probleme haben. Ohne Arbeit an der Psyche geht es also nicht. Das heisst für uns, dass wir entsprechend geschultes Personal brauchen, ob es nun eigene Mitarbeiter oder Externe sind. Beides ist für uns eine Herausforderung. Hier im Kanton Bern gibt es seit letztem Jahr die Therapieabteilung Thorberg (TAT). Das ist eine spezielle Einrichtung für solche Fälle. Aber es braucht noch viel mehr solche Einrichtungen, schweizweit.

Das Äquivalenzprinzip fordert, dass Menschen im Strafvollzug eine gleichwertige Gesundheitsversorgung erhalten wie Menschen in Freiheit. Wie wird dieses Prinzip in der Realität angewendet? Wo sind seine Grenzen?

Als Grundsatz ist das Äquivalenzprinzip zweifellos hochzuhalten. In der Realität funktioniert es wahrscheinlich nicht überall einwandfrei. Ich denke nicht, dass dieses Prinzip bewusst missachtet wird. Ich erlebe aber, dass es im Gefängnisalltag andere Sorgen gibt, vor allem bei den Gefangenen selber. Sie haben kein so ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein wie Menschen in Freiheit. Ihre primäre Sorge ist, dass sie nicht tun und lassen können, was sie wollen.

Wird in der Schweiz genug getan für die Wiedereingliederung Strafgefangener?

Ich habe die neusten Statistiken nicht im Kopf, aber das Schweizer Justizvollzugssystem steht etwa im Vergleich zu Deutschland, den USA oder Frankreich bestimmt nicht schlecht da. Ich habe den Eindruck, dass sich alle Anstalten in der Schweiz mit gutem Erfolg bemühen, die Häftlinge gut auf die Entlassung vorzubereiten. Dafür gibt es auch Projekte wie BiSt – Bildung im Strafvollzug. Die Bereitschaft und der Wille zu diesem Leben müssen natürlich letztlich von den Gefangenen selbst kommen, aber wir können Einfluss nehmen und ihnen Chancen eröffnen. Und wir müssen das tun – in unserem eigenen Interesse. Denn am Tag X sind diese Menschen wieder mitten unter uns. Wenn sie dann völlig unvorbereitet dastehen, ist das schlecht für die ganze Gesellschaft.

 «Das Hauptproblem beim Gefängnispersonal ist die starke Arbeitsbelastung.»

Aber die fast mittelalterliche Vorstellung, dass Gefangene mehr oder weniger an Ketten zu halten sind und nichts machen dürfen, hält sich hartnäckig, auch in Politikerkreisen. Natürlich müssen wir aber auch achtgeben, dass der Vollzug nicht zum Hotelaufenthalt wird. Das geht natürlich auch nicht. Aber Wiedereingliederungsmassnahmen sind absolut notwendig. Den richtigen und gerechten Weg zwischen Strafe und Wiedereingliederung zu finden, ist eine schwierige Herausforderung.

Ist die Gesellschaft genügend für den Strafvollzug und die Gesundheit im Strafvollzug sensibilisiert?

Ganz klar nein. Man wird sich der Gefangenen und der Gefängnisse nur bei negativen Schlagzeilen bewusst, wenn zum Beispiel einer getürmt ist.

Der Strafvollzug und damit auch die Gesundheitsversorgung in den Gefängnissen ist in der Schweiz Sache der Kantone. Was sind die auffälligsten kantonalen Unterschiede?

Hier ist zu sagen, dass alle Kantone zu einem von drei Strafvollzugskonkordaten gehören. Im Konkordat Nordwest- und Innerschweiz, dessen Präsident ich bin, gelten bestimmte Richtlinien, nach denen sich alle Konkordatskantone richten. Ich kenne die Gesundheitsversorgung in den beiden anderen Konkordaten nicht genau, aber ich denke, dass sie überall ähnlich ist. Sie ist bestimmt nicht überall optimal – deshalb das Projekt BIG.

Die KKJPD und die GDK empfehlen nun im Rahmen von BIG eine schweizweite Harmonisierung im Bereich Gefängnisgesundheit. Wo sehen Sie das Verbesserungspotenzial mit einer Harmonisierung?

Zu dieser Harmonisierung soll ja auch das geplante Kompetenzzentrum beitragen. Ich erachte dieses Zentrum als sehr sinnvolle Sache, deshalb setze ich mich auch für das Projekt BIG ein. Kompetenzzentrum klingt vielleicht etwas gross und teuer – tatsächlich handelt es sich aber einfach um eine Kompetenzdrehscheibe, die mit sehr wenig personellen und finanziellen Ressourcen auskommt.

Mehr als 70% der Gefängnisinsassinnen und -insassen in der Schweiz sind Ausländerinnen und Ausländer. Ein wichtiger Aspekt sind also die sprachlichen und kulturellen Gräben. Was empfiehlt die KKJPD den Kantonen bezüglich des interkulturellen Übersetzens (iKÜ)? Das Angebot eines Telefondolmetschdienstes besteht. Wie wäre es mit einem Poiltprojekt, das dem Telefondolmetschen einen Durchbruch verschaffen könnte?

Damit tu ich mich ein bisschen schwer. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Übersetzungsdienst nötig ist.

«Der Nutzen eines Kompetenzzentrums, nämlich der Erfahrungsaustausch, ist ganz wesentlich für einen Fortschritt im Bereich Gefängnisgesundheit.»

Mein Eindruck ist, dass sich die allermeisten Gefangenen in unseren Gefängnissen gut genug auf Deutsch verständigen können, wenn sie es denn wollen. Man könnte einen solchen Pilotversuch machen. Aber die Finanzierung wär ja dann auch noch zu klären.

Wir haben viel über die Gesundheit von Gefangenen gesprochen. Wie steht es um die Gesundheit des Gefängnis­personals?

Das Hauptproblem ist die starke Arbeitsbelastung. Wir haben zu wenig Personal. Hinzu kommt, dass der Umgang mit der Klientel immer schwieriger wird. Sei es, weil sie psychische Probleme haben, oder sei es, weil immer mehr Gefangene aus einem völlig anderen Kulturkreis kommen und ganz anders ticken als wir. Unser Gefängnispersonal ist also stark unter Druck.

Unser Gesprächspartner

Der Berner Regierungsrat Hans-Jürg Käser ist Vorsteher der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, Präsident der Kommission für Strafvollzug und Anstaltswesen (Neunerausschuss) der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) und Präsident des Strafvollzugskonkordates Nordwestschweiz-Innerschweiz. Nach seinem Geschichtsstudium in Bern war er Sekundarlehrer in Küssnacht am Rigi und in Langenthal. Von 1990 bis 1994 war er Rektor der Sekundarschule/des Untergymnasiums Langenthal. Von 1995 bis 2006 war Hans-Jürg Käser hauptamtlicher Stadtpräsident von Langenthal und von 1998 bis 2006 Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern, davon die letzten zwei Jahre Fraktionspräsident der FDP.

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