Wir müssen den sozialen Druck abbauen
Jul. 2011Männergesundheit
Forum Michel Graf. Ein «richtiger» Mann geht nicht zum Arzt wegen «nichts». Über dieses simple Klischee hinaus kann man tatsächlich beobachten, dass Männer seltener ärztlichen Rat suchen, und wenn, dann ist ihr Gesundheitsproblem schon ziemlich fortgeschritten. Würden sie wegen eines Alkoholproblems Rat suchen? Dafür müssten sie sich zuerst eingestehen, dass ihr Konsum problematisch ist.
Tatsächlich konsumieren Männer, ungeachtet der Altersgruppe, deutlich öfter und mehr Alkohol als Frauen. Der Anteil der Männer mit einem problematischen Konsum (mehr als 60 Gramm reiner Alkohol pro Tag bei Männern beziehungsweise 40 Gramm pro Tag bei Frauen) ist sogar doppelt so hoch wie bei den Frauen.
Die Gründe für problematischen Alkoholkonsum sind vielfältig. Oft werden Stress und hohe gesellschaftliche Akzeptanz – verstärkt durch die Werbung – als Risikofaktoren ausserhalb des Individuums genannt. Auf dieser Ebene scheinen Frauen und Männern den Risikofaktoren gleichermassen ausgesetzt zu sein. Man muss also andere Faktoren finden, die erklären würden, weswegen die Männer nicht nur mehr trinken als die Frauen, sondern auch seltener die Hilfe sozial-medizinischer Einrichtungen in Anspruch nehmen.
Der Mann hats im Griff, er hat die Kontrolle, er managt sein Leben und hat kein Recht darauf, Fehler zu machen – denkt er. Dasselbe gilt für seinen Alkoholkonsum: Trinkfest zu sein ist Beweis seiner Männlichkeit. Er muss viel vertragen, ohne betrunken zu werden. Aber er muss nicht nur beweisen, dass er alles unter Kontrolle hat, sondern auch, dass er seine Grenzen überschreiten, zu weit gehen kann. Er kann – manche würden sagen: Er muss – sich auch mal volllaufen lassen. Hier zeigt sich die männliche Neigung, Risiken einzugehen, starke Gefühle zu erleben. Ein überaus typisch männlicher Risikofaktor.
Ist jedoch nicht der grösste Risikofaktor für den Mann die Angst, sich als verletzlich zu zeigen, sich seinen Stress oder seine Ermüdung einzugestehen? Man kennt die Mühe, die Männer haben, ihre Gefühle zu zeigen. Hat der Mann in einer Gesellschaft, die den Exzess, die Leistung und den Erfolg hochjubelt, noch das Recht, seine Schwierigkeiten mit Alkohol zuzugeben? Die Zweifel sind berechtigt. Und vor diesem Hintergrund geht es den Frauen, die denselben Zwängen von sozialem Erfolg unterliegen, kein bisschen besser! Somit gilt es – über den Gender-Aspekt hinaus –, in erster Linie am Abbau dieses sozialen Drucks zu arbeiten. Ein Druck, der jedes Individuum, ob Mann oder Frau, belastet.
Michel Graf,
MPH, Direktor Sucht Info Schweiz