Das tückische «Gläschen in Ehren» der älteren Menschen
Sep. 2014Lebensqualität im Alter
Alkoholismus im Alter. Jeder sechzehnte der über 60-jährigen Menschen in der Schweiz trinkt chronisch zu viel Alkohol. Ein Problem, dass oft nicht ernst genommen wird.
Bei der grossen Mehrheit der Seniorinnen und Senioren in der Schweiz bleibt es beim risikoarmen, gelegentlichen Gläschen Rotwein oder Bier. Immerhin 6,4% in dieser Altersgruppe haben jedoch einen sogenannt chronisch risikoreichen Alkoholkonsum, Männer sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Frauen. «Chronisch risikoreich» bedeutet: Der durchschnittliche Konsum beträgt mehr als vier (Männer) respektive mehr als zwei (Frauen) Standardgläser alkoholischer Getränke pro Tag. Ein Standardglas ist zum Beispiel eine Stange Bier (3dl) oder ein Glas Wein (1dl).
Stärkere Wirkung im Alter
Diese von der WHO festgelegten Grenzwerte von vier respektive zwei Gläsern Alkohol pro Tag sind zweifellos für jeden Menschen gesundheitsschädigend. Vor allem bei älteren Menschen können aber auch schon kleinere Mengen problematisch sein, denn diese haben ein erhöhtes Suchtrisiko. Man schätzt, dass jeder dritte alkoholkranke ältere Mensch seine Alkoholabhängigkeit erst nach der Pensionierung entwickelt. Dies hat zum Teil physiologische Gründe: Je älter ein Körper ist, desto weniger Wasser enthält er und desto weniger wird der konsumierte Alkohol verdünnt. Die gleiche Menge Alkohol führt bei einem alten Menschen also zu einem höheren Promillewert als bei einem jungen. Das bedeutet auch: Der einst unproblematische Alkoholkonsum kann im Alter zum Problem werden. Zudem sinkt im Alter die Leistungsfähigkeit der Leber. Sie braucht länger, um den Alkohol abzubauen, sodass er länger im Körper bleibt.
Ruhestand – ein kritischer Lebensabschnitt
Die erhöhte Suchtgefährdung älterer Menschen hat aber auch psychosoziale Gründe. Der Ruhestand ist für die einen eine Zeit des Geniessens: Die Zwänge des Arbeitslebens fallen ab, man gönnt sich mehr Musse, mehr Extras im Alltag: einen Apéro, ein Gläschen Wein zum Essen und danach noch ein Schnäpschen. Für andere wiederum ist der Ruhestand eine Zeit der Leere und der Einsamkeit, denn mit dem Ende der Erwerbsarbeit sind auch die Tagesstruktur, der Halt und das soziale Leben abhanden gekommen. Auch Verlusterfahrungen – der Tod des Lebenspartners, der Geschwister, der Freunde – nehmen in diesem Lebensabschnitt zu. Alkohol hat in all diesen Fällen seinen Reiz und seine Tücken. Aus dem einen Gläschen ab und zu werden zwei, drei, vier. Und das immer häufiger.
Keine Bagatelle
Alkoholsucht im Alter ist meist eine stille Sucht. Die direkt Betroffenen wollen sie in den meisten Fällen nicht wahrhaben, sie schämen sich oder sie erachten es als völlig abwegig, selbst süchtig zu sein. Auch Nahestehende bagatellisieren das Alkoholproblem oft und wollen der alten Dame oder dem alten Herrn die zwei, drei «Gläschen in Ehren» nicht verwehren. Damit tut man diesen Menschen aber nichts Gutes: Alkoholabhängigkeit beeinträchtigt die Lebensqualität im Alter genauso wie in jüngeren Jahren. Ganz abgesehen von den erhöhten Krankheitsrisiken wie Diabetes, Demenz oder Krebs, die ein langanhaltender übermässiger Alkoholkonsum im Alter mit sich zieht. Der Alkoholkonsum hat zudem nicht nur negative Auswirkungen auf die Gesundheit, auch die Unfälle im Haus, in der Freizeit oder im Strassenverkehr nehmen zu.
Veränderungen ansprechen
Doch wie erkennt man eine Alkoholsucht bei älteren Menschen? Neben zunehmenden Unfällen können Interesselosigkeit, Rückzug, Aggressivität, Unruhe oder auch Gewichtsabnahme Anzeichen einer Alkoholsucht sein. Diese Symptome ähneln alle den gängigen Alterserkrankungen, und als solche werden sie meist missinterpretiert – an eine Sucht denken selbst Ärzte oft nicht.
Deswegen spielen gerade Nahestehende eine wichtige Rolle in der Früherkennung von Alkoholproblemen. Experten empfehlen, bei Verdacht die älteren Menschen sachte auf ihren Alkoholkonsum und auf die festgestellten Veränderungen anzusprechen. Mit Fragen kommt man meist weiter als mit Anschuldigungen, Moralpredigten und Diskussionen. Angehörige finden auch bei Fachstellen Hilfe und Beratung im Umgang mit alkoholkranken Senioren.
Wechselwirkung mit Medikamenten
Alkoholerkrankungen im Alter werden oft zusätzlich durch Medikamente verschärft, die typischerweise von älteren Patienten eingenommen werden müssen: zum Beispiel Antidepressiva, Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie Schmerzmittel. Viele dieser Medikamente verstärken ihre Wirkung, wenn noch Alkohol im Blut ist. Andere hingegen werden durch Alkohol schneller abgebaut und verlieren so ihre erwünschte Wirkungsintensität mit dem Effekt, dass die Dosis stetig erhöht wird. Dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit einer Medikamentenabhängigkeit, die bei älteren Menschen ohnehin schon relativ hoch ist.
Gute Heilungschancen
Auch und gerade im Alter lohnt es sich, eine Alkoholsucht zu bekämpfen. Die Erfahrung zeigt, dass Massnahmen bei älteren Menschen sehr erfolgversprechend sind. Besonders dann, wenn sie erst im Alter ein Alkoholproblem entwickelt haben. Dabei kann Abstinenz ein Ziel sein, muss aber nicht. Oft bedarf es auch keiner langwierigen Therapien, sondern nur einiger Gespräche, um sich der Ursache des Trinkens bewusst zu werden.
Struktur, Freunde, Hobbys
Schliesslich gilt aber: Älter werden heisst nicht Asket werden. Damit es aber beim massvollen Alkoholkonsum bleibt, ist es wichtig, sich auch im Alter eine sinnerfüllte Alltagsstruktur zu schaffen. Ein gutes soziales Netzwerk, Familie und Hobbys sind die beste Prävention gegen Altersalkoholismus. Dann bleiben der Wein oder das Bierchen ein wohlverdienter Genuss.
Wie viel Alkohol ist ok?
Männer: max. 2 Standardgetränke/ Tag*
Frauen: max. 1 Standardgetränk/Tag*
1 Standardgetränk entspricht 10 g
reinem Alkohol (z.B. 3 dl Bier/1 dl Wein/ 2 cl Schnaps/4 cl Likör
*Das sind Richtwerte. Mit steigendem Al-
ter verträgt der Körper weniger Alkohol.
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David Hess-Klein, Sektion Alkohol david.hess-klein@bag.admin.ch