Sprunglinks

zurück

«Wir urteilen nicht darüber, ob der gewählte Lebensentwurf gut ist oder nicht.»

Ausgabe Nr. 106
Sep. 2014
Lebensqualität im Alter

Interview mit Kaspar Zölch. Was passiert mit suchtkranken Menschen, wenn sie ein Alter erreichen, in welchem sie auf die Pflege und Betreuung in Alters- oder Pflegeheimen angewiesen sind? Noch gibt es wenige Einrichtungen, die sie aufnehmen. Im Solina in Spiez im Berner Oberland leben 180 pflegebedürftige Menschen. 10 von ihnen sind ehemalige Drogenabhängige, die mit Methadon oder Diaphin (pharmazeutischer Markenname für reines Heroin) substituiert werden, 25 weitere sind alkoholkrank. Standortleiter Kaspar Zölch schildert seine Erfahrungen mit seiner bunt gemischten Klientel und ihren ganz besonderen Bedürfnissen.

spectra: Herr Zölch, was ist das Besondere an Ihrer Institution?

Kaspar Zölch: Wir betreuen 180 Bewohnerinnen und Bewohner zwischen 18 und 104 Jahren, ein Drittel von ihnen ist unter 65 Jahre alt. Alle sind schwer bis schwerst pflegebedürftig, auf der Pflegestufenskala liegen wir bei etwa 8,2 von 12 Punkten. Dazu gehören neben betagten und dementen auch mehrfachbehinderte oder tumorerkrankte jüngere Menschen ohne medizinische Perspektive und Personen, die aus psychiatrischen Einrichtungen zu uns kommen. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner widerspiegeln in gewisser Weise die Gesellschaft draussen. Im Vordergrund steht die Frage: Was bringen die Menschen mit ins Solina? Jede und jeder hat Ressourcen. Daraus entsteht das Leben in unserem Haus.
Auf unseren Abteilungen ist alles gemischt. Wir haben keinerlei krankheitsspezifischen Spezialabteilungen für Demenz, Multiple Sklerose oder Halbseitengelähmte. Wir bekennen uns dazu, die Bewohnerinnen und Bewohner zu durchmischen. Neun Personen bilden zusammen eine Wohngruppe, die Aufteilung geschieht nach den Ressourcen, unabhängig von Alter und Geschlecht oder ob jemand mit einem Suchtproblem zu uns kommt. Wir leben diese Philosophie seit etwa sieben Jahren – mit gutem Erfolg.
Die meisten unserer Bewohnerinnen und Bewohner sind in ihrer Mobilität eingeschränkt, sehr viele im Rollstuhl. Ihr Wohlbefinden steht im Zentrum. Wie können wir mit pflegerischen, medizinischen und sozialtherapeutischen Massnahmen jeder und jedem einen Lebensabschnitt garantieren, während dem sie sich wohlfühlen? Alles dreht sich um die zentralen Themen wie Selbstbestimmung, Schmerzfreiheit und Lebensenergie.

Seit rund zehn Jahren betreuen Sie hier auch suchtkranke Menschen.

Ja, viele kommen aus den Heroinverschreibungsprogrammen in Bern, Burgdorf, Biel und Thun. Oder aus Spitälern, in denen sie beispielsweise nach einem Unfall gelandet sind. Der jüngste ehemalige Drogenabhängige ist 38, der älteste 58. Die Zeit auf der Gasse verkürzt das Leben drastisch. Die meisten haben eine massive psychiatrische Grunderkrankung, auf die sie dann – gewissermassen als Selbsttherapie – ihr Suchtverhalten gepflanzt haben. Drei Viertel sind Männer, rund ein Viertel Frauen. Sie alle sind chronisch krank, im Vordergrund steht ihr Wohlbefinden. Es ist nicht unser Hauptziel, sie auf eine Abstinenz hinzuführen. Wir urteilen nicht darüber, ob der von ihnen gewählte Lebensentwurf gut ist oder nicht. Wenn jemand seinen Konsum reduzieren möchte, dann unterstützen wir ihn natürlich dabei.

Wo sind die Unterschiede zwischen Alkoholkranken und Opiat­abhängigen?

Alkoholiker sind schwieriger zu führen als substituierte Bewohner. Denn bei einem Diaphin-Substituierten haben wir Sanktionsmöglichkeiten. Wer beim Atemtest zu viel Alkohol im Blut hat, bekommt Methadon statt Diaphin, was gar nicht geschätzt wird. Diese Abneigung gegen Methadon geht sogar so weit, dass man lieber auf die Heimferien am Meer als auf Diaphin verzichtet. Denn wir dürfen kein Diaphin über die Grenze nehmen.

Wie hat das Personal reagiert, als Sie anfingen, ehemalige Drogenabhängige aufzunehmen?

Am Anfang herrschten grosse Ängste. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gingen auf Distanz und fanden, dass diese Menschen nicht hierher gehören. Man befürchtete, dass Medikamente gestohlen oder gedealt werden würden, und konnte sich nicht vorstellen, auf dem Medikamentenwagen ein Alkoholtestgerät mitzuführen und die substituierten Bewohner vor der Medikamentenabgabe hineinblasen zu lassen. Heute ist die Betreuung von Diaphin-Patienten völlig problemlos, es ist ein Krankheitsbild wie andere auch.
Die Bewohner müssen in der Regel ihre Dosis selber intravenös injizieren, wir können den Pflegenden nicht zumuten, in den vom langjährigen Konsum verhärteten Venen eine passende Stelle zu finden. 

Wie gehen Sie mit Alkoholikern um?

Alkohol ist in unserem Land erlaubt, solange man sich anständig aufführt und genug Geld hat, ihn sich zu kaufen. Man darf sich in der Schweiz das Hirn und die Leber wegtrinken und auch die Lunge wegrauchen, das ist nun mal so – und in einer Langzeitpflegeinstitution gilt das grundsätzlich auch. Entscheidend ist das Limit in Bezug auf die eingenommenen Medikamente – insbesondere bei Substitutionspatienten. Je nach dem suchen wir nach den adäquaten Massnahmen: Begrenzung der Trinkmenge, Steuerung via Sackgeld. Wir machen auch Versuche mit kontrolliertem Trinken: morgens ein Bier, mittags ein Bier, abends ein Bier und auf die Nacht ein Bier. Das geht in einzelnen Fällen gut und nimmt den Patienten den Beschaffungsstress.
Problematisch wird es, wenn jemand aufgrund seines bisherigen Konsums nicht mehr urteilsfähig ist und er mit seinem Verhalten seine Gesundheit massiv gefährdet. Dann müsste der Konsum eigentlich verboten werden. Wer aber entscheidet, ob jemand noch urteilsfähig ist? Viele wollen nicht abstinent leben, obwohl dies der einzige Weg wäre, ihr Überleben zu sichern. Das führt gelegentlich zu ganz heiklen Auseinandersetzungen.

Wie werden solche Probleme gelöst?

Wir veranstalten regelmässig «runde Tische» mit den betroffenen Bewohnerinnen und Bewohnern, ihren Angehörigen (so sich noch jemand finden lässt), den Pflegenden und Betreuenden, der Beistandschaft, dem Sozialdienst, gelegentlich dem Seelsorger. Das gibt auch mal ganz harte Diskussionen. Wie sieht der Lebensentwurf der oder des Betroffenen aus, was ist nötig für das persönliche Wohlbefinden? Wenn jemand sein Leben bewusst im Rauschzustand verbringen will, darf er das – wir sind keine moralische Instanz und haben keinen Erziehungsauftrag.

Welche Tagesstruktur bieten Sie den Bewohnerinnen und Bewohnern?

Es gibt ein sehr niederschwelliges Angebot in der Creawerkstatt. Dort wird mit den Bewohnerinnen und Bewohnern sehr individuell gearbeitet und sie können sich dort ein kleines Sackgeld verdienen. Hinzu kommen verschiedene Therapiegruppen: Malen, Kochen, Männer- und Frauengruppen usw. Eine gewisse Struktur ergibt sich auch aus den Alltagsaufgaben: Tische decken und abräumen, selber Zimmer aufräumen und das Bett machen, kleine Trainingseinheiten im Bereich Körperpflege.

Wie werden die ehemaligen Drogenabhängigen hier in Spiez aufgenommen, wie ist das Zusammenleben mit anderen Heimbewohnern?

Angehörige haben gelegentlich Mühe, dass im Nachbarzimmer der Grossmutter jemand liegt, der eine Drogenkarriere hinter sich hat. Wenn sie dann selber hier waren und das Zusammenleben im Alltag sehen, lösen sich die Vorurteile meistens auf.
Im Dorf sind wir teilweise akzeptiert. Es schleckt keine Geiss weg, dass manche Bewohner mit dem Rollator losziehen, um sich bei Aldi, Coop oder in der der Landi 5 oder 10 Büchsen Bier à 50 Rappen zu kaufen, anderes liegt kaum drin – bei maximal 10 Franken Taschengeld täglich (von dem auch Zigaretten gekauft werden müssen). Manche versuchen es auch mal mit Betteln. Das alles gibt im Dorf böse Blicke und Gerede. Man fragt sich: Warum baut man für 60 Millionen ein Heim für «solche Leute»?

Wie funktioniert das Zusammenleben unter den Bewohnern?

Zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern gibt es wenige Probleme. Vor allem für demente Menschen spielt die Biografie des Gegenübers keine Rolle. Entscheidend für sie ist, ob sie als Mensch respektiert werden. Es gibt gewisse Anstandsregeln, die für alle gelten müssen. Sehr distinguierte ältere Personen haben gelegentlich mehr Probleme. Problematisch ist sicher die Mischung in Mehrbettzimmern. Dieses Problem löst sich mit der Fertigstellung des Neubaus: Dann werden wir nur noch Einzelzimmer haben.

Das Gassenleben ist geprägt von Beschaffungskriminalität und Dealen. Themen, die auch Sie beschäftigen?

Manches lässt sich nicht verhindern, wenn man Freiheiten zulässt und allen gestattet, ihren Lebensentwurf – im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben – so zu leben, wie sie das wollen. Bei illegalem Zusatzkonsum intervenieren wir, bei Wiederholungen ziehen wir einen Schlussstrich. Das wissen aber die Betroffenen auch.
Kiffen ist ebenfalls ein Thema. Haschisch ist grundsätzlich nicht toleriert, aber wir spielen nicht Polizei. Rauchen innerhalb des Betriebs – ausser auf den Balkonen und im Fumoir – ist ohnehin nicht erlaubt. Der Konsum im Freien geschieht auf eigenes Risiko. Wenn Stoff offen herumliegt, wird er vom Personal konfisziert. Cannabis kommt aber auch offiziell zum Einsatz: Manche Personen, vor allem Spastiker, bekommen aus medizinischen Überlegungen Hanftropfen.

Nach oben