Sprunglinks

zurück

«eHealth heisst: weg von Papier, Fax und Briefpost, hin zu den digitalen Kommunikations- und Informationsinstrumenten.»

Ausgabe Nr. 94
Sep. 2012
Digitalisierung im Gesundheitswesen

Interview Adrian Schmid. Was in anderen Branchen bereits zum Alltag gehört, ist im Gesundheitswesen noch Zukunftsmusik: der Einsatz von vernetzten elektronischen Hilfsmitteln, namentlich bei der Erfassung, Speicherung und Übermittlung von Patientendaten. Für den Bund hat diese Entwicklung hohe Priorität und er hat deshalb zusammen mit den Kantonen ein Koordinationsorgan für die «Strategie eHealth Schweiz» eingesetzt. Dessen Leiter, Adrian Schmid, erläutert im Gespräch mit «spectra» die Ziele, aber auch die Hürden des Projektes.

spectra: Herr Schmid, worum geht es bei «eHealth»?

Adrian Schmid: Es geht darum, auch im Gesundheitswesen die elektronischen Datenträger und Kommunikationswege zu nutzen. Also weg von Papier, Fax und Briefpost hin zu den digitalen Kommunikations- und Informationsinstrumenten. Ein Beispiel und wichtige Komponente von «eHealth» ist das elektronische Patientendossier, in dem relevante Gesundheitsdaten gesammelt werden und von den berechtigten Personen jederzeit abrufbar sind. Damit lässt sich schneller, besser und effizienter zusammenarbeiten.

Wem und wozu nützt «eHealth»?

«eHealth» nützt vor allem den Patientinnen und Patienten. Sie erhalten mehr Kontrolle und Entscheidungskompetenz, aber auch mehr Komfort im Umgang mit ihren Gesundheitsdaten. Sie können unter anderem bestimmen, wer auf welche Informationen Zugriff hat. Zudem sind zum Beispiel Röntgenbilder und Austrittsberichte immer digital verfügbar und müssen nicht mehr vom Spital zum Arzt getragen werden. Das bedeutet mehr Effizienz für alle Beteiligten, und für die Patientinnen und Patienten bedeutet es mehr Sicherheit, dass zum Beispiel die richtige Therapie angewandt wird, und letztlich eine bessere Behandlungsqualität.

Diese Entscheidungskompetenz der Patientinnen und Patienten erfordert auch eine gewisse medizinische Kompetenz. Wie wollen Sie diese Kompetenz sicherstellen?

Das elektronische Patientendossier enthält ein Berechtigungskonzept. Wir nehmen an, dass die meisten Patienten und Patientinnen, die ein elektronisches Dossier wollen, eine vorgegebene Grundeinstellung der Zugriffe  wählen werden. Man kann aber natürlich auf die individuellen Bedürfnisse eingehen und zum Beispiel einzelne Dokumente nur einem bestimmten Arzt zugänglich machen. Das alles können Patientinnen und Patienten selber machen, sie können sich aber auch jederzeit von einem Behandelnden beraten lassen, dem sie vertrauen.

Wie steht es um die Umsetzung von «eHealth»? Gibt es Pilotversuche oder Erfahrungen aus dem Ausland?

«eHealth» ist kein Schweizer IT-Grossprojekt, sondern eine Anwendung von neuen Technologien, die auch einen Kulturwandel beinhaltet. Es geht um eine neue Art der Zusammenarbeit. Mittlerweile setzen sich zehn Kantone – darunter alle grossen – konkret mit «eHealth» auseinander, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Genf etwa hat vor zwei Jahren ein Pilotprojekt lanciert und bereits viel Erfahrung in der Zusammenarbeit zwischen Spitälern und einem Ärztenetz gesammelt. Auch die Kantone Basel-Stadt, Waadt oder Wallis haben Umsetzungsprojekte  gestartet.

 «Diverse Länder haben versucht, solche Projekte
national zu verordnen. Sie sind gescheitert, weil sie den spezifischen Bedürfnissen in den Versorgungsregionen nicht gerecht wurden.»

Andere Kantone wie Aargau, St. Gallen, Luzern, Tessin oder Zürich sind daran, die relevanten Akteure an Bord zu holen und die Umsetzung von «eHealth» zusammen mit ihnen vorzubereiten. In der Schweiz entwickelt sich «eHealth» sehr föderal. Das Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier, das der Bundesrat um die Jahreswende zuhanden des Parlamentes verabschieden will, legt die übergeordneten Regeln und Standards fest, um die schweizweite Vernetzung zu gewährleisten.

Die an sich grenzenlosen Möglichkeiten der Vernetzung und Vereinheitlichung moderner Informationstechnologien enden also an den Kantonsgrenzen?

Sie enden nicht an den Kantonsgrenzen, sondern müssen dort starten und wachsen. Die medizinische Versorgungskultur in der Schweiz ist sehr kleinräumig ausgerichtet und stark regional geprägt. Das ist unser Föderalismus, damit können wir umgehen. Diverse Länder haben versucht, solche Projekte national zu verordnen. Sie sind gescheitert, weil sie den spezifischen Bedürfnissen in den Versorgungsregionen nicht gerecht wurden. Eine zentrale Vereinheitlichung greift in den Behandlungsstrukturen nicht. Aber wie gesagt: Jene Aspekte, die wesentlich sind für die Vernetzung, werden im Bundesgesetz festgehalten – da denken wir natürlich grossräumig und sogar über die Landesgrenzen hinaus.  Innerhalb dieser gesetzlichen Leitplanken können die Versorgungsregionen ihr System frei gestalten. Darüber herrscht breiter Konsens.

Wie funktioniert «eHealth» bei überkantonalen Kompetenzzentren im Bereich der Spitzenmedizin, etwa bei der Transplantationsmedizin?Regionale «eHealth»-Projekte sind zwar gemäss ihren regionalen Bedürfnissen ausgestaltet, aber sie haben ein gemeinsames Dach, sodass man sich natürlich austauschen kann. St. Galler werden also problemlos auf Informationen in Genf zugreifen können und umgekehrt.

Das setzt voraus, dass die Technologien der einzelnen Projekte kompatibel sind?

Ja, bei den Technologien orientieren wir uns an internationalen Standards, die sich bewährt haben. Das ist vergleichweise einfach. Die höhere föderale Hürde ist es, gemeinsame Inhalte und Darstellungen zu definieren. Da sind wir erst am Anfang.

Das zentrale «eHealth»-Thema aus Sicht der Patientinnen und Patienten dürfte der Datenschutz sein. Was antworten Sie besorgten Menschen, die ihre Gesundheitsdaten nicht einem elektronischen System anvertrauen wollen, das auf dem Internet basiert?

Zunächst müssen sie wissen, dass ihre Daten nicht in irgendeinen riesigen, zentralen Datenbunker eingespeist werden. Die föderale Struktur erlaubt es, dass die Daten dort bleiben, wo sie erstellt wurden und wo sie heute schon sind. Sprich: in den Spitälern oder bei den Ärzten. Die meisten Spitäler verfügen heute schon über grosse klinikinterne Informationssysteme. Mit «eHealth» werden diese Informationen lediglich für andere zugänglich gemacht. Dank diesem dezentralen Konzept gibt es auch keine zentrale Angriffsfläche. Weiter würde ich ihnen sagen, dass sie allein bestimmen, wer auf welche ihrer Daten Zugriff hat. Dazu haben wir das Zugriffsberechtigungskonzept entwickelt, das ich angesprochen habe. Umfragen zeigen, dass die meisten Patientinnen und Patienten sehr offen sind. Sie sind froh, wenn alle sie behandelnden Ärzte umfassend über ihren Gesundheitszustand informiert sind.

Werden Patientenorganisationen in die Entwicklung von eHealth einbezogen?

Ja, die Patientenorganisationen sind wie alle anderen Akteure in unsere Projektstruktur eingebunden. Wir wünschen uns allerdings eine eigentliche Patientenbewegung mit Identifikationsfiguren, die das Thema forcieren.

Gibt es wirtschaftliche Ziele für «eHealth»?

Nein, Kostensenkung oder Kostenstabilisierung sind keine strategischen Ziele von «eHealth». Natürlich geht man davon aus, dass sich «eHealth» langfristig positiv auf die Effizienz des Gesundheitssystems und somit auf die Kosten auswirken wird. Es ist zu erwarten, dass etwa Abläufe optimiert oder Doppeluntersuchungen und unnötige Behandlungen vermieden werden. Die Hauptziele sind aber die höhere Patientensicherheit und die bessere Behandlungsqualität durch ein besseres Wissensmanagement.

«Die föderale Struktur erlaubt es, dass die Daten dort bleiben, wo sie erstellt wurden und wo sie heute schon sind. Sprich: in den Spitälern oder bei den Ärzten.»

Patientinnen und Patienten können sicher sein, dass alle sie behandelnden Ärztinnen und Ärzte jederzeit auf umfassende und aktuelle Informationen über ihren Gesundheitszustand Zugriff haben.

Sie sind Leiter des Koordinationsorgans «eHealth» Bund-Kantone. Wie muss man sich diese Stelle vorstellen?

Träger dieser Stelle sind der Bund und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren. Sie haben beschlossen, die «eHealth»-Strategie gemeinsam umzusetzen. Wir haben den Auftrag, Empfehlungen für die Umsetzung an den Bund, die Kantone und alle anderen Akteure abzugeben. Das bedingt, dass das Thema sehr breit etabliert wird. Unsere Struktur und Kultur basiert deshalb auf einem sehr breiten Einbezug aller relevanten Akteure. Dazu gehören natürlich Ärzte, Spitäler und Pflegende, aber auch die IT-Branche. Alle arbeiten an den Konzepten mit. Nur so können wir Empfehlungen ausarbeiten, die auch akzeptiert werden.

Das Koordinationsorgan besteht seit 2008. Was wurde bisher erreicht?

Als Erstes mussten wir uns einig werden, wie wir die Ziele der «Strategie eHealth Schweiz» umsetzen wollen. Die ersten Grundlagenarbeiten dauerten zwei Jahre. Es war eine elementare Arbeit, um alle Akteure im Boot zu haben. Schliesslich war man sich einig, wie das elektronische Patientendossier umgesetzt werden kann. Weiter haben wir Standards festgelegt und eine Architektur für «eHealth» in der Schweiz entwickelt, die heute breit akzeptiert ist.

«Wir müssen flexibel bleiben mit dem Ziel im Hinterkopf, dass wir in zwanzig Jahren dort sein werden, wo die Finanz- und die Logistikbranche oder andere Branchen längst sind.»

Und wir haben Prozesse etabliert, die festlegen, wer bei welchen Themen einbezogen werden soll und welche Themen prioritär behandelt werden müssen. Das ergibt ein Bündel von inzwischen gegen hundert Empfehlungen, wie man in den verschiedenen Bereichen von «eHealth» vorangehen sollte. Diese Empfehlungen sollen jenen dienen, die mit «eHealth» beginnen wollen, noch bevor das Bundesgesetz in Kraft ist.

An welche Grenzen stossen Sie in Ihrer Arbeit in der Koordination?

Wir stossen immer wieder an föderale Grenzen, weniger im kantonalen als im geistigen Sinne. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass der typische Schweizer die Dinge selber erfinden oder zumindest prägen will. Wir beobachten häufig, dass die Leute die Idee eines elektronischen Datenaustauschs begrüssen, bei der Umsetzung von Projekten die gemeinsam festgelegten Standards und die gemeinsam festgelegte Philosophie aber übergehen und technologische Insellösungen schaffen. Viele bleiben in ihren alten Denkmustern haften und orientieren sich nicht an den neuen Konzepten. Was wir brauchen, ist aber eine Einigung auf ein Konzept. Da wünsche ich mir mehr Offenheit. Wenn es mit den Einzellösungen so weitergeht wie bisher, wird ein Arzt künftig zehn Bildschirme vor sich haben und zwanzig Websites zu verschiedensten Gesundheitsthemen bedienen müssen, um es überspitzt auszudrücken. Das Ziel ist aber die Integration aller Themen auf einer Plattform. Das ist kein technisches, sondern ein kulturelles Problem.

Was sind die mittel- und lang­fristigen Ziele von eHealth?

In zehn bis zwanzig Jahren sollte das E vor «eHealth» hinfällig sein. Die Digitalisierung des Gesundheitssystems wird dann so oder so selbstverständlich sein. Kurz- und mittelfristig müssen wir aber immer genau schauen, was der nächste Schritt ist. Wir dürfen uns nicht zu sehr auf konkrete Ziele in fünf Jahren Entfernung versteifen. Wir müssen die kommenden zwei, drei Jahre im Blick haben und schauen, welches die wichtigen Themen sind, wie wir die Entwicklung mit unserer Koordination am besten unterstützen können. Wir müssen flexibel bleiben mit dem Ziel im Hinterkopf, dass wir in zwanzig Jahren dort sein werden, wo die Finanz- und die Logistikbranche oder andere Branchen längst sind. Sie alle haben die IT-Integration bereits hinter sich.

Gibt es Vorbilder für diesen Weg?

Die Gesundheitsversorgung ist fast überall eine regionale Angelegenheit. Viele Länder haben ähnliche Probleme und Fragen wie wir, aber ein anderes Umfeld, um diese zu beantworten. Wir blicken trotzdem oft nach Nordeuropa. Schottland etwa hat für die Hausarztmedizin sehr viel Gutes gemacht. Die Schweden sind mit sehr viel Kreativität und Engagement am Thema dran. Dänemark hat schon vor zehn Jahren eine gute, flächendeckende Lösung bei den Ärzten etabliert. Aber auch einzelne Regionen in Spanien oder Italien. Und nach Österreich haben wir einen guten Draht. An solchen Beispielen können wir uns orientieren und inspirieren lassen, aber wir können nichts tel quel übernehmen.

Wie steht die Schweiz bezüglich der Entwicklung von «eHealth» im Vergleich zu andern Ländern da?

Konzeptionell ist die Schweiz ziemlich weit. Bei der Umsetzung harzt es noch ein wenig. Dies mitunter wegen der gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, die derzeit integrative Lösungen nicht unbedingt fördern. Weiter bedeutet die Umstellung von der Papier- auf die digitale Form für kleine Praxen einen relativ grossen Aufwand, den viele Ärzte scheuen. Hier braucht es ebenfalls politische Unterstützung, um Hürden zu beseitigen.

Rückgrat von «eHealth» ist das elektronische Patientendossier. Mit der Vorlage für ein solches Dossier ist ein wichtiger politischer Schritt getan. Wie geht es damit weiter?

Hier gibt es eine klare Aufgabenteilung. Der Bund ist für die Gesetzgebung verantwortlich, die Kantone oder Versorgungsregionen setzten die Projekte um, und wir versuchen, alles zusammenzubringen. Das Gesetz ist ein wichtiger Baustein. Damit es sicher durchkommt, muss man das Thema richtig positionieren. Es darf nicht als Gesundheitsreform aufgebauscht werden, denn das ist es nicht. Wir stellen lediglich die Instrumente für einen Wandel im Gesundheitswesen zur Verfügung, der ohnehin stattfindet.

«Das Ziel ist aber die Integration aller Themen auf einer Plattform. Das ist kein technisches, sondern ein kulturelles Problem.»

Mein Anliegen ist es, das Thema nicht politisch aufzuladen. Wir brauchen dieses Instrument, damit der Trend in Richtung der integrierten Versorgung unterstützt werden kann. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen setzen. Es scheint derzeit keine grundsätzlichen politischen Widerstände gegen «eHealth» zu geben. Aber es gibt immer einzelne strittige Fragen, an denen sich eine politische Debatte kristallisieren kann. Das ist nicht voraussehbar.

Sie haben die gesundheitspolitisch ungünstigen Rahmenbedingungen für «eHealth» angesprochen. Die Managed-Care-Vorlage hat eine deutliche Abfuhr bekommen. Bereitet Ihnen dieses Abstimmungsresultat in Bezug auf «eHealth» Sorgen, die ja ebenfalls auf dem integrativen Prinzip und der Vernetzung basiert?

Sorgen nicht, aber eine Zustimmung für die Managed Care hätte «eHealth» natürlich viel Rückenwind gegeben. Doch die integrierte Versorgung bleibt auch nach dieser Abstimmung ein Thema, und sie ist inhaltlich weitgehend unbestritten. Abgelehnt wurde ja weniger das Prinzip der integrierten Versorgung als die konkrete Umsetzung. Ich bedaure, dass «eHealth» nun nicht durch ein entsprechendes Umfeld stärker gefördert wird. Aber «eHealth» wird sich trotzdem entwickeln und etablieren, davon bin ich überzeugt. Die Akteure des Gesundheitswesens dürfen einfach nicht vergessen, dass es bei «eHealth» nicht primär um sie, sondern um ihre Patientinnen und Patienten geht. Für mehr Patientensicherheit und eine bessere Versorgungsqualität. Die Patientinnen und Patienten vergisst man häufig in der gesundheitspolitischen Diskussion, die hierzulande sehr stark von den Verbänden – Ärzten, Spitälern oder Krankenkassen – geprägt wird. Bei der «eHealth»-Diskussion müssen ganz klar die Patientinnen und Patienten im Vordergrund stehen.

Unser Gesprächspartner

Adrian Schmid ist seit Anfang 2008 Leiter der Geschäftsstelle des neu gegründeten Koordinationsorgans Bund-Kantone (eHealth Suisse). Die Stelle ist administrativ dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) angegliedert, wird aber von Bund und Kantonen gemeinsam finanziert und geführt. Nach einem pädagogischen Studium war Adrian Schmid während vieler Jahre als Redaktor bei verschiedenen Schweizer Medien tätig (mit Spezialgebiet Gesundheitswesen). Vor zehn Jahren übernahm er eine Projektleitung im Stab des Direktionsbereichs Kranken- und Unfallversicherung im BAG. In dieser Funktion leitete er unter anderem die Arbeiten an den rechtlichen Grundlagen zur nationalen Versichertenkarte und zur «Strategie eHealth Schweiz».

Nach oben