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Enttabuisieren, informieren – und weiterforschen

Ausgabe Nr. 132
Dez. 2021
Kritische Lebensereignisse

Was lässt sich tun, um die Krisenkompetenz und Resilienz der Schweizer Bevölkerung zu stärken? Es braucht auf die spezifischen Bedürfnisse massgeschneiderte Angebote, verbesserte gesellschaftliche Rahmen­bedingungen – und die Schliessung der nach wie vor grossen Wissenslücken.

Gemäss den Daten des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums ist jedes Jahr mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit mindestens einem kritischen Lebensereignis konfrontiert, sei es, wenn jemand selbst schwer krank wird oder einen Unfall erleidet oder wenn es zu einem Abbruch einer engen Beziehung kommt. Der grösste Teil der Betroffenen scheint solche Erfahrungen verarbeiten und sich an die Übergänge im Leben anpassen zu können. Trotzdem zeigt sich ein Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und kritischen Ereignissen, insbesondere, wenn sie gehäuft auftreten: Während unter den Personen ohne kritisches Ereignis im letzten Jahr 3,3 Prozent psychisch stark belastet waren, geben knapp 11 Prozent der Personen mit drei oder mehr kritischen Ereignissen an, im letzten Jahr psychisch stark belastet gewesen zu sein.

Individualisierung als Gefahr für Bewältigung

Die Lebenslaufforschung interessiere sich seit einiger Zeit nicht mehr nur für den kurzfristigen Einfluss von kritischen Ereignissen auf die psychische Gesundheit, der Blick richte sich zusehends auch auf längerfristige Entwicklungen, schreibt Felix Wettstein im Bericht «Psychische Gesundheit über die Lebensspanne» von Gesundheitsförderung Schweiz. Der Dozent am Institut Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Nordwestschweiz führt zudem aus, dass Übergänge im Lebenslauf mit Rollen- und Statuswechseln verbunden seien, die durch ritualisierte Anlässe (wie etwa Hochzeiten oder Beerdigungen) erleichtert würden, weil Rituale seit jeher Gefühle von Verunsicherung und Isolation verminderten. «Allerdings verlaufen Biografien zunehmend individualistischer», schreibt Wettstein (siehe auch Forumsartikel auf Seite 2).

In der Individualisierung und Privatisierung von biografischen Wendepunkten sieht auch die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello eine grosse Gefahr (siehe Artikel Seite 11). Herausfordernde Situationen – wie etwa der Übergang vom Paar zur Familie – würden eher bewältigt, wenn die Veränderungen verstanden und eingeordnet werden könnten. Und wenn die Anforderungen als sinnvoll und bedeutsam angesehen würden. Wer das Gefühl hat, dass sich die Anstrengung und das Engagement lohne, schaffe es oft auch, etwa für ein gutes Familienklima zu sorgen, das sich nicht nur positiv auf die Gesundheit der Eltern, sondern auch auf diejenige des Kindes auswirkt.

Perrig-Chiello stellt fest, dass vor allem Männer immer noch Mühe haben, sich Probleme einzugestehen und Hilfe zu beanspruchen. Für die Psychologin ist jedoch klar: «Hilfe aufsuchen ist ein Zeichen der Stärke!» Vielen Männern droht nach einer Trennung oder nach dem Tod ihrer Partnerin die Vereinsamung – mit all ihren negativen gesundheitlichen Folgen. Deshalb müsse man Lebenskrisen enttabuisieren und mit gezielten Früherkennungsangeboten die Bewältigungskompetenzen stärken und die Belastungen reduzieren. Doch darüber hinaus gelte es auch, die Rahmenbedingungen zu verbessern, zum Beispiel mit einer Siedlungspolitik, die mit öffentlichen Grünflächen vermehrt Begegnungsräume schafft. Oder mit Mobilitätshilfen und vielfältigen Freizeitangeboten, die es Personen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Datenlage weist Lücken auf

Dass kritische Lebensereignisse nicht nur die psychische Gesundheit, sondern auch die allgemeine Gesundheit und das Risikoverhalten beeinflussen, belegen Dario Spini, Annahita Ehsan und Hannah Sophie Klaas von der Universität Lausanne in ihrer Analyse der wissenschaftlichen Literatur zum Thema. Allerdings kommen die Forschenden zum Schluss, dass die Datenlage in der Schweiz erhebliche Lücken aufweist. Zu den Empfehlungen der Forschenden gehört deshalb die Schliessung dieser Lücken. «Es sollten Längsschnittstudien ins Leben gerufen werden», fordern Spini und seine beiden Mitarbeiterinnen. Von solchen Studien versprechen sich die Forschenden zweierlei Arten von weiteren Erkenntnissen. Erstens: ein besseres Verständnis des längerfristigen Zusammenhangs zwischen Lebensereignissen und Veränderungen im Risikoverhalten. Zweitens: die Identifikation von Risikogruppen in der Schweiz.

Zudem empfiehlt das Team um Spini, die Akteure im Gesundheitsbereich über die Herausforderungen zu informieren, die sich beim Bewältigen von kritischen Lebensereignissen stellen. Und drittens empfehlen die Forschenden, sich auch mit gezielten Angeboten direkt an diejenigen Teile der Bevölkerung zu richten, die aufgrund eines Lebensereignisses einem besonderen Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. In ihrer Analyse der wissenschaftlichen Literatur stachen in diesem Zusammenhang vor allem drei Ereignisse hervor, die mit weniger Bewegung, aber einem grösseren Alkoholkonsum einhergingen: der Studiumsbeginn, der Verlust einer Arbeitsstelle und die unfreiwillige Pensionierung. 

Kontakt

Eva Bruhin
Sektion Präventionsstrategien

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