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Kritische Lebensereignisse: Der Wohnortwechsel und die sozialen Unterschiede werden zu wenig beachtet

Ausgabe Nr. 132
Dez. 2021
Kritische Lebensereignisse

Forum. Zunächst unterscheide ich zwischen Übergängen im Lebenslauf und kritischen Lebensereignissen. Nicht jeder Übergang muss ein kritisches Lebensereignis sein: Manchmal ist der Wechsel gut planbar, und das Leben geht in ruhigen Bahnen weiter. Umgekehrt gibt es eine Reihe möglicher Ereignisse, die uns unverhofft ereilen, ohne dass damit ein biografischer Übergang verbunden ist.

Soll man versuchen, den Schweregrad von kritischen Lebensereignissen in eine Rangreihenfolge zu bringen? Ich halte solche Vorschläge für anregend, auch wenn sie teilweise umstritten sind. Als heftigstes Ereignis gilt der Tod der Lebenspartnerin, des Lebenspartners. Auch Trennung/Scheidung, Tod eines Familienangehörigen, schwere Erkrankung, Unfall oder Verlust der Arbeitsstelle stehen auf der Liste weit oben.

Wenn wir von den gesundheitlichen Auswirkungen sprechen, dann denken wir in der Regel an Belastungen. Vor allem unplanbare Ereignisse erhöhen das Risiko einer psychischen Erkrankung, etwa Depressionen oder Angststörungen. Auch die Anfälligkeit auf körperliche Erkrankungen steigt. Trotzdem gibt es auch Beispiele dafür, dass Betroffene nach einem kritischen Lebensereignis an (psychischer) Gesundheit zulegen. Sie steigern womöglich ihre Kontrollüberzeugungen (das Gefühl, die Umstände des Lebens kontrollieren zu können) und ihr Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, nach Aaron Antonovsky), namentlich dann, wenn sie das Vorgefallene gut einordnen können. Nicht selten führt ein heftiges Ereignis zu einer neuen Qualität und Intensität der sozialen Unterstützung, was sich wiederum stärkend auf die Gesundheit auswirkt.

Nach meiner Einschätzung gibt es ein verbreitetes kritisches Lebensereignis, das bisher in der Forschung wenig Beachtung findet: der Wohnortwechsel. Die meisten Menschen erleben ihn im Verlauf ihres Lebens mehrmals. Er kommt zwar in der Regel nicht aus heiterem Himmel, kann aber einschneidend sein, vor allem, wenn der Umzug nicht nur im Quartier oder Dorf stattfindet und wenn er zeitlich mit einem anderen biografischen Übergang zusammenfällt.

Ebenfalls zu selten wird der Aspekt «soziale Unterschiede» thematisiert. Statistisch gesehen sind Menschen mit tiefem sozioökonomischem Status von diversen kritischen Übergängen deutlich häufiger betroffen als die Wohlhabenden. Der Wohnortwechsel gehört dazu: Arme ziehen häufiger um. Es ist mit ein Grund, warum sie ein deutlich kleineres soziales Netz haben. Sie sind auch häufiger von Stellenabbau und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit betroffen. Zudem ist ihr Erkrankungsrisiko bezüglich der meisten Krankheitsbilder überdurchschnittlich hoch. Als Gesellschaft haben wir allen Grund, bei der Abfederung der belastenden Folgen kritischer Lebensereignisse spezifisch an Kinder und Erwachsene in bescheidenen materiellen Verhältnissen zu denken.

Kontakt

Felix Wettstein
Dozent für Gesundheitsförderung an der FH Nordwestschweiz
Hochschule für Soziale Arbeit in Olten
Nationalrat GRÜNE

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