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«Krisen sind biografische Wendepunkte – negativ wie positiv»

Ausgabe Nr. 132
Dez. 2021
Kritische Lebensereignisse

5 Fragen an Pasqualina Perrig-Chiello. Die Entwicklungs­psychologin und Psychotherapeutin erklärt, warum Krisen immer auch eine Chance sind, wie Resilienz entsteht und warum die Vereinsamung ein Thema für die öffentliche Gesundheit werden muss.

1. Was sind typische kritische Lebensereignisse? 

Das sind Ereignisse, die mit einer akuten Belastung einhergehen und die zu einer (meist vorübergehenden) Überforderung führen. Krisen sind zumeist biografische Wendepunkte. Eine Pensionierung, eine schwere Erkrankung oder auch eine Scheidung oder Verwitwung sind Herausforderungen, die eine beachtliche Anpassungsleistung erfordern. Krisen zwingen eine Person, sich neu zu definieren und ihr Leben neu zu organisieren. Dabei stammt das Wort Krise vom Griechischen krisis ab, das auch «Entscheidung» bedeutet. Für mich heisst das, dass eine Krise nicht per se schlimm ist, sondern sowohl negativ wie positiv ausgehen kann.

2. Wieso reagieren Menschen unterschiedlich auf Krisen, wieso verzweifeln einige und andere wachsen daran?

Grundsätzlich entscheiden zwei Faktoren darüber, wie man auf eine Krise reagiert. Einerseits natürlich das Umfeld, die Unterstützung durch Familie und Freunde. Andererseits hängt die Reaktion auch von der Persönlichkeitsstruktur ab. Einer offenen, freundlichen und neugierigen Person fällt es oft einfacher, sich an neue Gegebenheiten anzupassen als einer Person, die ängstlich in der Routine ihren Halt sucht. Studienergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Betroffenen eine allfällige Krise gut bewältigt: Rund ein Drittel ist krisenfest oder psychisch resilient. Etwa die Hälfte wird zwar zu Beginn etwas aus der Bahn geworfen, passt sich dann aber im Verlauf von etwa zwei Jahren an die neue Situation an. Nur eine Minderheit, je nach Ereignis ungefähr zehn bis zwanzig Prozent, erholt sich nicht.

3. «Die Zeit heilt Wunden», heisst es oft. Was passiert da eigentlich im Inneren einer Person? 

Wer in eine Krise gerät oder an einen biografischen Wendepunkt gelangt, muss sich psychisch anpassen und sich auf eine neue Situation einstellen. Dieser Adaptationsprozess braucht Zeit. Denn es gilt nicht nur, loszulassen und sich zu verabschieden. Vom langjährigen, identitätsstiftenden Beruf oder von einer lieben Person, die verstorben ist. Sondern gleichzeitig gilt es auch, eine neue Identität zu finden und im Alltag andere Routinen aufzubauen. Früher ging die Wissenschaft davon aus, dass diese unterschiedlichen Phasen eines Trauer- oder Adaptationsprozesses aufeinanderfolgen sollten. Doch aktuelle Ansätze distanzieren sich von dieser sequenziellen Logik. So sieht zum Beispiel das duale Prozessmodell zwei Kräfte am Werk. Die Vergangenheitsorientierung leistet die Trauerarbeit, die Wiederherstellungsorientierung sorgt für Ablenkung. Wenn wir einen Verlust verarbeiten, oszillieren wir ständig zwischen diesen beiden Positionen. Zu Beginn sind die meisten mehr vergangenheitsorientiert – und mit der Zeit gewinnt die Wiederherstellungsorientierung zusehends an Bedeutung.

«Resilienz entsteht erst im Widerstand. Viele Personen werden sich ihrer Stärken erst während einer Krise bewusst.»

4. Auf was spielen Sie an, wenn Sie von der «Krise als Chance» sprechen? 

Resilienz entsteht erst im Widerstand. Viele Personen dümpeln im Alltag etwas dahin. Erst wenn sie belastende Situationen erleben, aktivieren sie ihre Ressourcen. Das heisst aber auch, dass sie sich erst während einer Krise ihrer Stärken bewusst werden. Viele Menschen berichten auch, dass sie aus überstandenen Krisen gelernt hätten – und seither zum Beispiel das Leben intensiver wertschätzten oder mehr Dankbarkeit verspürten. Die vorübergehende Überforderung in der Krise steht oft am Anfang eines persönlichen Wachstums.

«Männer leiden zumeist ungleich mehr an Einsamkeit und den damit verbundenen Folgen für die Gesundheit. Einsamkeit ist leider in unserer Gesellschaft tabuisiert.»

5. Welche Faktoren tragen zur Bewältigung einer Krise bei? 

Neben einem tragenden sozialen Umfeld spielen vor allem Charakterstärken – wie etwa Aufgeschlossenheit, Humor, Dankbarkeit oder Mitgefühl – eine grosse Rolle. Diese Stärken sind nicht vordefiniert, sondern lassen sich trainieren. Deshalb kann man die psychische Resilienz ein Stück weit auch erlernen – und mit gezielten Angeboten fördern. Dabei gibt es individuelle Unterschiede. So zeigt die Forschung, dass es Männern nach einem Partnerverlust schwerer fällt als Frauen, sich in ihrem Umfeld Unterstützung zu holen. Sie leiden zumeist ungleich mehr an Einsamkeit und den damit verbundenen negativen Folgen für die Gesundheit. Einsamkeit ist leider in unserer Gesellschaft tabuisiert. Die Vereinsamung muss ein Thema für die öffentliche Gesundheit werden, umso mehr als sie in der heutigen individualisierten Gesellschaft um sich greift und immer mehr Menschen betrifft. Eine wirksame Prävention berücksichtigt deshalb auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ermöglicht mit Mobilitäts- und Freizeitangeboten die soziale Teilhabe.

Kontakt

Prof. em. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello
Präsidentin der Senioren­universität Bern

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