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«Ich bin immer wieder erstaunt, wie gross unsere Anpassungsfähigkeit ist»

Ausgabe Nr. 132
Dez. 2021
Kritische Lebensereignisse

Personen, die sich scheiden lassen oder den Arbeitsplatz verlieren, trinken mehr Alkohol. Der Effekt sei aber oft vorübergehend, sagt Dario Spini, Professor am Institut für soziale Wissenschaften der Universität Lausanne. Entscheidend für das Gesundheitsverhalten seien nicht nur individuelle, sondern auch soziale Faktoren.

Dario Spini, zusammen mit Ihrem Team haben Sie kürzlich einen Bericht über den Einfluss von Lebensereignissen auf das Gesundheitsverhalten veröffentlicht. Wie sind Sie vorgegangen?

Annahita Ehsan, Hannah Sophie Klaas und ich haben die wissenschaftliche Literatur durchkämmt und insgesamt 94 longitudinale Studien gefunden, die sich mit kritischen Lebensereignissen und ihrem Einfluss auf das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung befassen. Der Grossteil der Studien, die sich mit dem Konsum von Alkohol oder Tabak befassen, stammen aus den USA. Und obwohl wir ausgiebig gesucht haben, haben wir keine einzige Forschungsarbeit aus der Schweiz ausmachen können, die die zeitliche Dimension berücksichtigt. Es gibt zwar eine Reihe von Daten zum Substanzkonsum oder auch zur Bewegungsintensität in der Schweizer Bevölkerung, doch wir haben uns bewusst auf diejenigen Arbeiten fokussiert, die den Lebensverlauf aufzeichnen. Denn wir wollten wissen, wann ein Ereignis zu einer Veränderung im Verhalten führt.

Welche Befunde haben Sie am meisten überrascht?

Wir hatten mehrere Überraschungen. Wir haben zum Beispiel nicht damit gerechnet, dass Geschlechterunterschiede einen grösseren Einfluss auf  Veränderungen im Gesundheitsverhalten haben als sozioökonomische Unterschiede. Wie jemand auf eine Trennung reagiert, hängt also mehr davon ab, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, als ob diese Person privilegiert oder benachteiligt ist. Auch Altersunterschiede spielen gemäss unserer Analyse nur eine untergeordnete Rolle.

Tatsächlich?

Ja, allerdings hat das auch mit dem Fokus unserer Untersuchung zu tun. Im Auftrag des BAG haben wir uns auf Studien beschränkt, die das individuelle Verhalten untersuchen, also wie viel sich jemand bewegt oder wie viel Alkohol oder Drogen jemand konsumiert. Die wissenschaftliche Literatur legt aber nahe, dass es ausser den individuellen auch weitere Faktoren gibt, die eine mindestens ebenso wichtige und oft sogar eine wichtigere Rolle spielen. Dazu gehören zum Beispiel Umweltfaktoren, vor allem aber auch soziale Faktoren wie etwa die sozialen Beziehungen. Es gibt viele Studien, die zeigen, dass die soziale Eingliederung und auch deren Gegenteil, die Vereinsamung, von grosser Bedeutung für das Gesundheitsverhalten sind. Wir wissen auch, dass eine soziale Isolation oder Diskriminierung Stress auslösen und sich stark auf das Gesundheitsverhalten auswirken können. Hinzu kommt, dass diskriminierende Erfahrungen oft mit benachteiligten gesellschaftlichen Stellungen in Verbindung stehen. Aber leider haben wir Studien, die solchen Fragen nachgehen, nicht berücksichtigen können, denn dazu hatten wir kein Mandat und deshalb fehlten uns dafür die Mittel.

Was hat Sie sonst noch überrascht?

Dass der Eintritt in die Universität offenbar einen grossen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten hat, daran hatte ich vorher noch nie gedacht. In unserer Analyse kommen wir zum Schluss, dass der Studiumsbeginn zu den Lebensereignissen mit dem grössten Risiko gehört, denn die betroffenen Personen bewegen sich weniger, aber nehmen zugleich mehr Alkohol zu sich. Allerdings wurden die meisten longitudinalen Studien in den USA durchgeführt, wo der Studiumsbeginn im Allgemeinen eine weitreichendere Bedeutung hat als hier in der Schweiz. Beim Übertragen der Resultate auf hiesige Verhältnisse müssen wir also etwas Vorsicht walten lassen. Trotzdem schauen wir uns nun an der Universität Lausanne natürlich an, wie wir unsere Studierenden auf dieses Thema aufmerksam machen wollen.

Ihre Untersuchung legt nahe, dass sich körperliche Aktivität und Substanzkonsum oft parallel entwickeln. Woran liegt das?

Ja, tatsächlich haben wir gesehen, dass Menschen in stabiler Partnerschaft und solche, die Eltern werden, sich zwar weniger bewegen, aber auch weniger Substanzen konsumieren. Oder: Personen, die frühzeitig in Pension gehen sowie solche, die sich scheiden lassen, bewegen sich mehr, trinken gleichzeitig aber auch mehr Alkohol. Diese Parallelität hat wahrscheinlich mit der Menge an verfügbarer Zeit zu tun. Nach der Geburt eines Kindes ist man oft bis über die Ohren beschäftigt. Viele Frauen treten bei Sport und geselligem Zusammensein etwas kürzer, weil sich Frauen oft stärker in der Familie engagieren und deshalb eher ihre Freizeit opfern als Männer.

«Es gibt viele Studien, die zeigen, dass die soziale Eingliederung und auch deren Gegenteil, die Vereinsamung, von grosser Bedeutung für das Gesundheitsverhalten sind.»

Und nach einer Pensionierung hat man mehr Zeit, also steigt dann auch der Alkoholkonsum?

Ja, und zwar bei allen Pensionierten. Doch während die frühzeitig Pensionierten sich auch mehr bewegen, sinkt die körperliche Aktivität bei den unfreiwillig Pensionierten. Das zeigt, dass die verfügbare Zeit nicht der einzige Faktor sein kann. Aus meiner Sicht hängt das Gesundheitsverhalten auch sehr davon ab, wie viel Stress man hat. Lebensereignisse wie der Verlust des Arbeitsplatzes erhöhen den Stress. Im Verlauf zeigt sich oft, dass sich der Alkoholkonsum wieder einpendelt, wenn der Stress­level der Personen wieder sinkt – und sich die Personen an ihre neue Situation angepasst und neue Ressourcen gefunden haben.

Gemäss Dario Spini gehört der Studiumsbeginn zu den kritischen Lebensereignissen, da Studierende sich in der Regel weniger bewegen und mehr Alkohol konsumieren (Hinweis: Bild wurde vor der Corona-Pandemie aufgenommen).

Die Veränderungen des Gesundheitsverhaltens sind also oft vorübergehender Natur?

Ja, obwohl eine Kündigung ein tiefgreifendes Ereignis sein kann, denn man verliert nicht nur die Aussicht auf ein gesichertes Einkommen, oft lösen sich auch zum Teil langjährige persönliche Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen auf. Zudem verlieren viele Personen, eher Männer als Frauen, mit ihrer Arbeit auch einen Teil ihrer Identität, die sie im Anschluss neu aufbauen und definieren müssen. Das braucht Zeit. Insgesamt aber bin ich immer wieder erstaunt, wie unglaublich gross die Anpassungsfähigkeit von uns Menschen ist. Die grosse Mehrheit hält eine Menge aus und kann vieles wegstecken, insbesondere auch in Bezug auf den Arbeitsplatz.

«Aus meiner Sicht hängt das Gesundheitsverhalten auch sehr davon ab, wie viel Stress man hat.»

Wieso steigt das Gewicht sowohl beim Antreten einer Arbeitsstelle wie auch beim Verlust einer Arbeitsstelle?

Auch das lässt sich – mindestens zum Teil – mit Stress erklären. Eine Arbeitslosigkeit belastet, eine häufige Reaktion ist, mehr zu essen. Unsere Analyse zeigt allerdings, dass nur Personen, die eine 100-Prozent-Stelle übernehmen, an Gewicht zunehmen. Personen, die eine Teilzeitstelle beginnen, nehmen ab. Das leuchtet ein, denn diese Personen haben ausserhalb ihrer Arbeitszeit mehr Gelegenheit, sich zu bewegen oder sportlich zu betätigen.

Sie weisen in Ihrem Bericht auf die Beschränktheit der 94 berücksichtigten Studien hin. Was kritisieren Sie?

Die meisten Studien schauen sich nur jeweils ein isoliertes Lebensereignis an – und untersuchen dessen Effekt. Aber was ist, wenn im Verlauf eines Lebens gleich mehrere kritische Ereignisse eintreten? Wenn jemand sich beispielsweise scheiden lässt und kurz darauf auch die Stelle verliert? Es ist denkbar, dass solche Häufungen von Ereignissen verstärkt benachteiligte und verletzliche Bevölkerungsgruppen betreffen. Aber dazu wissen wir im Moment noch schlicht zu wenig, weil die Forschung erst in den letzten Jahren dazu übergegangen ist, sich nicht nur für ein einzelnes Lebensereignis, sondern für den Lebensverlauf zu interessieren. Das ist natürlich mit einem grösseren Aufwand verbunden – und deshalb schwieriger zu untersuchen. Ausserdem: Meine persönliche Überzeugung ist, dass das individuelle Gesundheitsverhalten nur einer von mehreren Aspekten ist.

Wie meinen Sie das?

Wer sich für Lebensübergänge interessiert, müsste meiner Meinung nach auch in Erfahrung bringen, ob sich Personen gesellschaftlich absondern oder ob sie diskriminiert werden. Der ausschliessliche Fokus auf das individuelle Verhalten verdeckt, dass auch andere Faktoren zu Wohlergehen und Gesundheit beitragen, wie etwa die soziale Integration oder die finanzielle Sicherheit. Eine Politik, die sich nicht nur an den Einzelnen richtet, könnte auch andere Botschaften verbreiten. Anstatt um mehr Sport und weniger Alkohol ginge es vermehrt um die Förderung von sozialem Austausch in den Quartieren oder um die Unterstützung benachteiligter Familien. Grundsätzlich stellt sich die Frage, welche Rolle der Staat im Gesundheitsbereich einnehmen sollte. Soll er sich auch mit städtebaulichen Aspekten wie der Bereitstellung von Grünflächen befassen? Vielleicht sehen die Antworten in der französischsprachigen Schweiz anders aus als in der deutschsprachigen. Ich beobachte jedenfalls, dass neue Entwicklungen im Gang sind.

«Der ausschliessliche Fokus auf das individuelle Verhalten verdeckt, dass auch andere Faktoren zu Wohlergehen und Gesundheit beitragen, wie etwa die soziale Integration oder die finanzielle Sicherheit.»

Was für Entwicklungen?

Wir arbeiten zum Beispiel aktuell in einem Projekt mit der Gemeinde Chavannes-près-Renens. Wir versuchen mit gezielten Interventionen, die gesellschaftlichen Verbindungen der Einwohnerinnen und Einwohner zu stärken, und möchten herausfinden, ob sich dadurch auch deren Gesundheit verbessert. Das Projekt setzt allerdings voraus, dass das Sozialamt und das Gesundheitsamt eng zusammenarbeiten. Solche bereichsübergreifenden Anstrengungen sind noch nicht die Norm, aber sie können zu völlig anderen Resultaten führen.

Zum Beispiel?

Für das Projekt in Chavannes-près-Renens haben wir einen partizipativen Ansatz gewählt. Wir wollten von den Leuten wissen, welche Veränderungen sie sich für ihr Quartier wünschten, und haben dann viel Zeit mit Zuhören verbracht. Dabei ist unter anderem herausgekommen, dass sich viele Personen am herumliegenden Abfall störten. Für die Gemeindebehörden war das Problem alles andere als neu. Sie hatten in den letzten 15 Jahren immer wieder darüber diskutiert, diverse Beschlüsse gefasst, aber das Problem nie in den Griff bekommen, weil sie sich nicht genügend abgesprochen hatten. Erst als wir alle Beteiligten für gemeinsame Gespräche versammelten, löste sich die Blockade. Die Eigentümer erklärten sich bereit, einen Teil der Fläche der Gemeinde zu überlassen, die so einen öffentlichen Spielplatz einrichten konnte. Die Einwohnerinnen und Einwohner organisierten so genannte «Clean-up-Days», und die Behörden haben beschlossen, die Putzmannschaft zweimal wöchentlich anstatt wie bisher nur einmal pro Woche vorbeizuschicken. Wie lange sich diese Lösung hält, muss sich noch weisen. Aber es zeigt, dass viel mehr Dinge möglich werden mit einer anderen Logik und anders eingesetzten Mitteln.

Prof. Dr. Dario Spini

Dario Spini hat an den Universitäten von Neuenburg und Genf Psychologie studiert. Nach Forschungsaufenthalten an der University of North Carolina in Chapel Hill in den USA, an der University of Surrey in Guildford in Grossbritannien sowie an der Universität Genf hat Spini im Jahr 2001 eine Professur für soziale Psychologie und Lebenslaufforschung an der Universität Lau­sanne angenommen. Seit dem Jahr 2011 leitet er zudem das Kompetenzzentrum LIVES, das sich mit der Überwindung der Verletzbarkeit im Verlauf des Lebens befasst (www.centre-lives.ch). 

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