Kreativer Austausch auf dem Monte Verità: Interdisziplinäre Plattform in lockerem Rahmen
Sep. 2011Gesundheit und Kultur
SuchtAkademie 2011. Wie können individuelle Freiheit und öffentliche Sicherheit gleichzeitig garantiert werden? Was soll von der Öffentlichkeit mitgetragen und toleriert werden, wo liegen die Grenzen? Wie lässt sich die Zusammenarbeit zwischen Repression, sozialen Institutionen und der Zivilgesellschaft sinnvoll gestalten? Die SuchtAkademie 2011 widmete sich problematischem Substanzkonsum und Risikoverhalten im öffentlichen Raum unter den Aspekten Sicherheit und soziale Integration.
Als beliebte interdisziplinäre Diskussionsplattform fand die SuchtAkademie vom 19. bis 21. Mai 2011 zum dritten Mal statt. Ort für diese Denkfabrik war wiederum der Monte Verità im Kanton Tessin, wo die unkonventionelle Suche nach neuen Lebensformen schon vor dem Ersten Weltkrieg begründet wurde. Am fächerübergreifenden Gedankenaustausch haben rund 80 persönlich eingeladene Fachleute aus den Bereichen Sucht- und Sozialarbeit, Polizei, Wissenschaft, Verwaltung, Politik und Medien teilgenommen. Auf Einladung der Expertengruppe Weiterbildung Sucht (EWS) analysierten sie die aktuellen Probleme im öffentlichen Raum auf der Basis von Beiträgen aus Theorie und Praxis, um Handlungsansätze für eine nachhaltige Lösung dieser Probleme zu erarbeiten.
Marktplatz für Praxisbeispiele
Die SuchtAkademie blieb nicht bei den Grundsatzfragen stehen, sondern stellte sich den aktuellen Herausforderungen der Praxis: Welche Strategien und Massnahmen existieren in den Schweizer Städten und wo liegen ihre Möglichkeiten und Grenzen? Inwiefern lassen sich erfolgreiche Strategien und Massnahmen auf andere örtliche, soziale und politische Rahmenbedingungen übertragen? Der angeregte Austausch unter den Teilnehmenden der SuchtAkademie wurde auch anhand von konkreten Projekten gepflegt, von denen viele innovativen Charakter und Nachahmungspotenzial haben. Auf einem Marktplatz der Ideen wurden ein Dutzend lokale Projekte im öffentlichen Raum vorgestellt. Das Spektrum reichte vom Fancoaching in Biel und von der gleichzeitig laufenden Dialogwoche Alkohol über Streetwork-Projekte für Jugendliche, Generationenübergreifendes in Carouge oder Quartierbelebendes an der Zürcher Langstrasse und Anti-Littering-Initiativen bis zu nächtlichen Sportangeboten oder Prävention an Dance Partys.
Sieben Handlungsfelder
Die SuchtAkademie hatte die Ambition, aus den theoretischen Ansätzen und den Beispielen aus der Praxis Handlungsempfehlungen zu definieren. Chancen und Herausforderungen wurden in sieben Handlungsfelder aufgegliedert. Die erarbeiteten Empfehlungen fordern unter anderem lokales Handeln in Städten und Gemeinden, besser noch in den einzelnen Quartieren und Stadtteilen:
1. Junge und alte Menschen/ intergenerationaler Dialog
«Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.» Dieses Sprichwort gilt auch für das soziale Verhalten im öffentlichen Raum. Über die Schule können Kinder und Jugendliche flächendeckend für Fragen der Sicherheit und der sozialen Integration sensibilisiert werden und Verhaltensregeln lernen. Gleichzeitig muss auch in die ältere Generation investiert werden, denn sie wird eine immer grössere Nutzergruppe des öffentlichen Raums. Schliesslich geht es darum, den intergenerationalen Dialog zwischen Jugendlichen und älteren Menschen zu fördern.
2. Familiarität
Für das Wohlbefinden eines Menschen ist das Gefühl der Vertrautheit zentral. Dazu ist es wichtig, mit den Menschen im unmittelbaren Lebensumfeld zu sprechen und zu lernen, mit anderen sozialen Normen umzugehen. Anzustreben ist die «Interconnaissance», also ein soziales Umfeld, in dem sich die Menschen gegenseitig kennen und anerkennen. Dazu müssen Interaktion und Kommunikation (nicht soziale Kontrolle) sowie das Verantwortungsgefühl für das Quartier gefördert werden.
3. Situative Regulierung
Verhaltensregeln sind fundamental für ein friedliches Zusammenleben. Dabei sind situativ ausgehandelte Lösungen förderlicher als starre, absolut gültige Regelwerke. In diesem Aushandlungsprozess müssen in erster Linie professionelle Fachleute des öffentlichen Raums Verantwortung übernehmen.
4. Quartierpolizei
Durch die Abschaffung der meisten Quartier-Polizeiposten herrscht zwischen Quartierbewohnern und Polizisten weitgehend Anonymität. Auf ihren Streifenwagenpatrouillen wirken die Polizisten eher distanziert und angsteinflössend, als dass sie Sicherheit vermitteln. Polizisten müssen aber Vertrauenspersonen sein und den Kontakt zu den Menschen pflegen. Dazu braucht es eine Rückbesinnung auf den Quartierpolizei-Ansatz und zum «Community Policing».
5. Dialog mit Medien und Politik
Praxisleute des öffentlichen Raums sollten vermehrt mit Politikern und Medienschaffenden kommunizieren. Nur über die stetige, aktive Kommunikation kann die nötige Aufmerksamkeit und Akzeptanz für Anliegen im Sinne der Sicherheit und des öffentlichen Raums erreicht werden. Dabei spielen auch informelle Kontakte eine zentrale und oft entscheidende Rolle.
6. Flexibilisierung der Polizei und der sozialen Institutionen
Die Entwicklung hin zu einer 24-Stunden-Gesellschaft ist nicht aufzuhalten. Entsprechend müssen die Akteure und Institutionen des öffentliches Raums (z. B. Polizei oder Sozialarbeit) ihre Ressourcen und Strukturen flexibilisieren und ihre Rollen hinterfragen und gegebenenfalls neu definieren.
7. Stadtgestaltung
Viel Licht und die Präsenz von Kindern im Quartier vermitteln ein Gefühl der Sicherheit. In hellen, kinderreichen Umgebungen braucht es auch weniger Polizeipräsenz. Eine entsprechende räumliche und bauliche Gestaltung und eine sozial begleitete Entwicklung und Aufwertung von Gemeinden und Quartieren kann in dieser Hinsicht viel bewirken.
Um diesen Handlungsansätzen und Forderungen Nachdruck zu verleihen, wird die Expertengruppe Weiterbildung Sucht (EWS) in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern schweizweit regionale Dialogforen veranstalten.
Kaminfeuergespräch mit Zeltner und Uchtenhagen
Man wollte aber auch die Erfahrung aus der Vergangenheit miteinbeziehen. Am Abend des ersten Tages unterhielten sich Ambros Uchtenhagen, Stiftungsratsvorsitzender des Instituts für Sucht- und Gesundheitsforschung der Universität Zürich, und Thomas Zeltner, ehemaliger Direktor des Bundesamts für Gesundheit, über die letzten zwei Jahrzehnte der Schweizer Drogenpolitik. Besonderes Augenmerk hatte dabei die Entstehung der weltweit beachteten offenen Drogenszenen. Und natürlich deren Überwindung. Uchtenhagen: «Die famose Vier-Säulen-Politik war keine Vorschrift des Bundes, sondern eine Einladung, die eigene Kreativität zu gebrauchen und neue Antworten auf diese Herausforderungen zu finden.»
Eine solche Grundhaltung seitens von Politik und Verwaltung schafft gute Rahmenbedingungen zur Bewältigung von neuen Herausforderungen. Darüber waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der SuchtAkademie einig.
Informationen zur SuchtAkademie 2011
Ein Film mit Statements und Impressionen von der Tagung sowie Info-Poster und Resultate aus den Workshops sind erhältlich auf www.suchtakademie.ch
Kontakt
René Stamm, Sektion Drogen, rene.stamm@bag.admin.ch