«Psychische Störungen sind oft stigmatisierend»
Mär. 2013Nichtübertragbare Krankheiten
Fünf Fragen an Elvira Keller-Guglielmetti. Obwohl es sich bei psychischen Leiden klar um nichtübertragbare Krankheiten handelt, tun sich viele Fachleute schwer, diese in diesem Zusammenhang zu betrachten, beklagt Elvira Keller, zuständig für das Dossier «Psychische Gesundheit» beim Bundesamt für Gesundheit. Handlungsbedarf ortet Elvira Keller namentlich bei der besseren Behandlung von Depressionen – gerade bei jungen und bei alten Menschen – und bei der Suizidprävention. Bund und Kantone engagieren sich für das Thema Mental Health, etwa mit der Unterstützung des Netzwerks Psychische Gesundheit Schweiz.
Wo besteht Handlungsbedarf im Bereich psychischer Gesundheit?
Grosser Handlungsbedarf besteht bei der Früherkennung von Depressionen. Depressionen sind häufige psychische Störungen, die mit erheblichem Leiden verbunden sind. Sie führen zu deutlichen Beeinträchtigungen im Alltag und verursachen zudem hohe Kosten. Wenn wir von Früherkennung bei Depressionen sprechen, werden die jungen und die alten Menschen rasch vergessen. Aber genau hier sollten vermehrt Anstrengungen unternommen werden. Gemäss BFS sind von den über 65-jährigen Personen, die in einem Alters- oder Pflegeheim leben, 39% demenzkrank und 26% leiden unter einer Depression. Hinzu kommt, dass es in Heimen wenig psychotherapeutische Angebote gibt. Was ist denn das Besondere an Depressionen bei alten Menschen? Nur 16% der Betroffenen werden erkannt und behandelt. Doch weshalb wird die Diagnose nicht gestellt? Im Alter kommt eine schwache Ausprägung der depressiven Symptome besonders häufig vor. Körperliche Beschwerden stehen dann oft im Vordergrund und überdecken die depressiven Symptome. Oder die Depression wird bei der Diagnosestellung mit einer Demenz verwechselt. Und oft wird die Suizidalität im Alter nicht als Symptom einer behandelbaren und behandlungswürdigen Depression (an-)erkannt.
Bei Kindern und Jugendlichen ist eine Depression ebenfalls nicht leicht zu erkennen. Diese kann sich statt durch depressive Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit eher in einer anhaltend bedrückten Stimmung manifestieren. Oder statt zu einem augenfälligen Gewichtsverlust kommt es eher zu einer fehlenden Gewichtszunahme (Wachstumsalter) bei Kindern. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Lustlosigkeit bei Aktivitäten und beim Spielen. Auch ein «Knick» in den Schulleistungen oder ein sozialer Rückzug können auf eine Depression hinweisen. Leider gibt es zu wenig Fachleute, die sich auf Kinder und Jugendliche spezialisiert haben. Wo stehen wir bezüglich Suizidprävention in der Schweiz? Seit 2009 werden Todesfälle durch Suizide oder assistierten Suizid (organisierte Beihilfe zum Suizid) gesondert ausgewiesen. Die Suizidraten sind jedoch nach wie vor hoch, verglichen mit dem Ausland. 2009 sind in der Schweiz 1105 Menschen (827 Männer und 278 Frauen) durch Suizid gestorben. Bei den 15- bis 34-Jährigen sind insgesamt 10% der Todesfälle auf Suizid zurückzuführen, bei den 65- bis 79-Jährigen 21,3% und bei den über 80-Jährigen ganze 28,4%. Suizidprävention wird in der Schweiz nur punktuell gefördert.
Doch wer ist gegen Suizid eher geschützt?
Menschen mit sozialer Kompetenz, psychischer Gesundheit, einem ausgeprägten Gesundheitsbewusstsein, die körperlich aktiv, neugierig und offen sind, neigen weniger zu autoaggressivem Verhalten. Deshalb sollten Präventivmassnahmen diese Kompetenzen und Bedingungen besonders bei jungen Menschen einerseits und alten Menschen andererseits fördern. Zudem müssten die Hausärzte und -ärztinnen für die Problematik Suizidalität sensibilisiert werden. Aber auch wir alle sollten diesbezüglich achtsam werden in unserem persönlichen Umfeld.
Welche Prioritäten setzt das BAG beim Thema Mental Health?
Die Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der psychischen Gesundheit ist seit 2002 im Rahmen des Dialogs Nationale Gesundheitspolitik ein gemeinsames Thema von Bund und Kantonen. So hat das BAG die Nutzungsrechte für die lizenzierten Materialien des Aktionsprogramms Bündnis gegen Depression erworben. Diese werden unentgeltlich an interessierte kantonale und regionale Bündnispartner in der Schweiz abgegeben. Das BAG verfügt jedoch nicht über gesetzliche Grundlagen für Finanzhilfen zur Förderung und Unterstützung der Aktivitäten der Kantone im Bereich der Suizidprävention. Das BAG ist aber bereit, sein Engagement im Bereich der Erarbeitung und Bereitstellung von Datengrundlagen und der Förderung der Zusammenarbeit und des Wissenstransfers weiterzuführen. Überdies ist das BAG einer der Träger des Netzwerkes Psychische Gesundheit Schweiz.
Wo steht das Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz heute?
Im Dezember 2011 wurde das Netzwerk Psychische Gesundheit gegründet. Die Trägerschaft setzt sich aus BAG, BSV, SECO einerseits und der GDK und der Gesundheitsförderung Schweiz andererseits zusammen. Ziel des Netzwerkes ist es, die Koordination und Vernetzung im Bereich psychische Gesundheit unter den Akteuren zu fördern und den Wissens- und Erfahrungsaustausch zu erleichtern. Dazu soll auch die im Dezember 2012 aufgeschaltete Website des Netzwerks Psychische Gesundheit Schweiz einen Beitrag leisten. siehe www.npg-rsp.ch
Wie ist das Verhältnis zwischen nichtübertragbaren Krankheiten (NCDs) und psychischen Krankheiten?
Zu den NCDs zählen Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atemwegserkrankungen. So weit herrscht auch im internationalen Kontext ziemliche Einigkeit. Obschon es sich bei den psychischen Krankheiten klar um nichtübertragbare Krankheiten handelt, tun sich die Fachkreise schwer, diese innerhalb der NCDs zu betrachten. Vermutlich hat dies vor allem mit der weit verbreiteten Stigmatisierung von psychischen Störungen zu tun. Zu den Hauptrisikofaktoren für NCDs zählen Tabakkonsum, unausgewogene Ernährung, Bewegungsmangel und übermässiger Alkoholkonsum. In der Regel ist keiner dieser Faktoren für eine psychische Erkrankung verantwortlich. Hingegen ist der Risikofaktor Stress sowohl für die psychischen Krankheiten als auch für die (weiteren) NCDs von grosser Wichtigkeit.