Nichtübertragbare Krankheiten – ein «slow motion disaster»
Mär. 2013Nichtübertragbare Krankheiten
Nichtübertragbare Krankheiten. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Diabetes mellitus: Nichtübertragbare Krankheiten sind heute weltweit die Todesursache Nummer eins. Margaret Chan, die Generaldirektorin der WHO, bezeichnete die Verbreitung dieser Krankheiten als «slow motion disaster», schleichendes Desaster, und als eine der grössten gesundheitlichen Herausforderungen der Zukunft.
Der medizinische Fortschritt in den letzten hundert Jahren hat insgesamt zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung, aber auch zu einer Veränderung des Krankheitsspektrums und der Todesursachen geführt. Während am Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose die Hauptursache für Erkrankung und vorzeitigen Tod waren, sind es heute chronische, nichtübertragbare Krankheiten. Gemäss Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verursachen sie 77 Prozent der Krankheitslast in der Europäischen Region der WHO. In der Schweiz machten sie 2004 90 Prozent der Krankheitslast aus. Unter «Krankheitslast» versteht man die durch frühzeitigen Tod (vor dem 70. Lebensjahr) verlorenen und durch Krankheit oder Behinderungen beeinträchtigten Lebensjahre.
«Zivilisationskrankheiten» vorbeugen
Die WHO geht davon aus, dass die nichtübertragbaren Krankheiten in den nächsten Jahren weiter ansteigen werden. Ihre Zunahme ist hauptsächlich auf Veränderungen im Lebensstil zurückzuführen: mangelnde Bewegung, unausgewogene Ernährung, Alkoholmissbrauch und Tabakkonsum sind vor allem in modernen Gesellschaften weit verbreitete Risikofaktoren, die nichtübertragbare Krankheiten stark begünstigen. Diese Krankheiten verursachen nicht nur viel Leid und eingeschränkte Lebensqualität, sondern stellen das Gesundheitswesen vor grosse Herausforderungen – auf finanzieller, struktureller und personeller Ebene. Der Fokus der Gesundheitspolitik muss deshalb auf der Stärkung einer integrierten, multisektoralen Prävention liegen und darauf, ein gesundes Altern zu ermöglichen.
In der Schweiz zeigen sich bezüglich der Risikofaktoren starke soziale Unterschiede zuungunsten der Bevölkerungsgruppen mit wenig Bildung, tiefem Einkommen und Migrationshintergrund. Das Regionalbüro der WHO hat 2011 einen Aktionsplan zur Umsetzung der Strategie zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten verabschiedet. Die dort vorgestellten Massnahmen zielen vor allem darauf ab, gesundheitsförderliche Strukturen, Rahmenbedingungen und Umwelten zu gestalten, welche der gesamten Bevölkerung sowie Risikogruppen ein gesünderes Verhalten ermöglichen. Die nationalen Präventionsprogramme der Schweiz orientieren sich daran.
Prävention: mehrschichtig und multisektoral
Prävention wird in drei Ansätze unterteilt: Primärprävention oder Gesundheitsförderung (für gesunde Menschen), Sekundärprävention oder Früherkennung + Frühintervention (bei ersten Anzeichen einer Erkrankung) und Tertiärprävention oder «Disease Management» (bei Vorliegen einer Krankheit). Weiter wird zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention unterschieden. Ein Beispiel für Verhaltensprävention sind Informationskampagnen oder ein Coaching durch eine Ernährungsberaterin, die Menschen bei der Veränderung ihrer Essgewohnheiten begleitet. Unter Verhältnisprävention versteht man Massnahmen zur Gestaltung der Umwelt, die einen gesunden Lebensstil fördern oder erleichtern. Dazu gehören strukturelle Massnahmen wie der Ausbau von Velowegen und Naherholungsgebiete, finanzielle Anreize wie die Erhöhung der Tabaksteuer oder gesetzliche Massnahmen wie das Alkoholausschankverbot an unter 18-Jährige.
Die Bekämpfung von nichtübertragbaren Krankheiten bedarf vor allem einer tieferen strukturellen Verankerung der Prävention in der Grundversorgung (inkl. interdisziplinärer Zusammenarbeit) (siehe dazu Artikel auf Seite 4). Nötig sind aber auch das Vorantreiben neuer Technologien wie E-Health (siehe «spectra» Nr. 94), die Förderung integrierter Versorgungsmodelle und die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und der Patienten. Es bedarf im Sinne des multisektoralen Ansatzes aber nicht nur Massnahmen im Gesundheitssektor, sondern in allen Sektoren der Politik von der Wirtschaft über die Bildung bis hin zur Umwelt- und Sozialpolitik.
Präventionsprogramme gegen Risikofaktoren
In der Schweiz gibt es seit 2008 drei nationale Präventionsprogramme, die auf die Bekämpfung der Hauptrisikofaktoren von nichtübertragbaren Krankheiten zielen: die Programme Tabak, Alkohol sowie Ernährung und Bewegung. Sie bilden das Dach über die verschiedenen nationalen, kantonalen und kommunalen Präventionsaktivitäten in diesen Bereichen. Die Programme werden zusammen mit den Kantonen, NGOs und – gemäss dem multisektoralen Ansatz – mit weiteren Akteuren aus verschieden Bereichen (Raumplanung, Wirtschaft, Bildung) umgesetzt. Das Nationale Programm Migration und Gesundheit und das Netzwerk Psychische Gesundheit ergänzen diese Programme mit ihrem Fokus auf besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen. Migration und Gesundheit ist ein Programm des Bundesamts für Gesundheit, die Träger des Netzwerks Psychische Gesundheit sind der Bund, Gesundheitsförderung Schweiz und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). 2012 hat der Bundesrat die Präventionsprogramme um weitere vier Jahre bis 2016 verlängert. Damit wird die Kontinuität der in den vergangenen Jahren geleisteten Präventionsarbeit sichergestellt. Diese Kontinuität ist umso wichtiger, als Präventionsmassnahmen erst mittel- und langfristig Wirkung zeigen.
Mehr Forschung zum Thema
Massnahmen gegen nichtübertragbare Krankheiten erfordern wissenschaftliche Fakten und regelmässiges Monitoring. In der Schweizerischen Gesundheitsbefragung im Jahr 2015 werden diese Krankheiten deshalb den Forschungsschwerpunkt bilden. Geplant ist zudem eine Studie zu den Kostenfolgen solcher Erkrankungen. Weiter konzentriert sich das BAG auf die Versorgungsforschung (siehe Artikel auf Seite 4), um fundierte Grundlagen für die Entwicklung von integrierten Versorgungsmodellen zu erhalten, welche Prävention als integrierten Teil der Versorgung verstehen. Einige Kantone haben bereits Programme lanciert, die gemäss den internationalen Empfehlungen die chronischen Erkrankungen umfassend angehen. Dazu gehört das Krebsprogramm des Kantons Zug oder das Diabetesprogramm des Kantons Waadt.
Der im internationalen Vergleich überdurchschnittlich gute Gesundheitszustand der Schweizer Bevölkerung dürfte längerfristig nur dann aufrechtzuerhalten sein, wenn Prävention als ganzheitliches und positiv besetztes Konzept auf allen Ebenen und Sektoren berücksichtigt wird. Denn um die Epidemie der nichtübertragbaren Krankheiten einzudämmen, braucht es das Engagement und die Zusammenarbeit aller Akteure inner- und ausserhalb des Gesundheitssystems und die aktive Beteiligung der Bevölkerung.
Kontakt
Ursula Koch, Co-Leiterin der Abteilung Nationale Präventionsprogramme, ursula.koch@bag.admin.ch