Ungleiche Chancen auf ungetrübtes Familienglück
Jan. 2012Sexuelle und reproduktive Gesundheit
Reproduktive Gesundheit von Migrantinnen in der Schweiz. Mütter und Neugeborene mit Migrationshintergrund sind deutlich weniger gesund als Schweizer Mütter und ihre Babys. Was die genauen Gründe dafür sind, bleibt zu klären.
Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit haben Paola Bollini, Philippe Wanner, Sandro Pampallona und Sarah Fall 2006 und 2010 zwei Forschungsprojekte zur reproduktiven Gesundheit der Migrationsbevölkerung durchgeführt. Der neuere Bericht bestätigt die Ergebnisse des ersten Berichts: Bestimmte Gruppen der in der Schweiz lebenden Migrationsbevölkerung sind im Bereich der reproduktiven Gesundheit erhöhten Risiken ausgesetzt.
Schlechterer Start ins Leben
Wie die Forschenden bereits 2006 feststellten, ist der Schwangerschaftsverlauf bei Migrantinnen prekärer als bei Schweizer Frauen. Eine Folge davon ist, dass bestimmte Nationalitäten bei den meisten verfügbaren Indikatoren zur Gesundheit von Neugeborenen schlecht abschneiden. So beträgt der Anteil der Babys mit einem tiefen Geburtsgewicht (unter 2500 g) bei den portugiesischen und spanischen Neugeborenen 7,1 %, bei den srilankischen und somalischen Neugeborenen 8,1 % und bei angolanischen Neugeborenen 10,1 %. Zum Vergleich: Bei den Schweizer Neugeborenen sind etwa 6,5 % untergewichtig (Durchschnitt 2001 bis 2007). Ähnliche Differenzen gibt es bei der Kindersterblichkeitsrate. Bei Schweizer Kindern beträgt sie 5,19 pro 1000 Kinder (1987 bis 2007), bei Kindern aus Ex-Jugoslawien 5,59, bei spanischen Kindern 5,56, bei türkischen 7,19, bei vietnamesischen 8,18 und bei somalischen 8,37. Diese Unterschiede werden auch deutlich bei einer Analyse der Datenbank «Baby Friendly Health Facilities», die einen Drittel aller Geburten in der Schweiz abdeckt. Diese Daten ermöglichen auch statistische Analysen von Frühgeburten, Kaiserschnitten und Einlieferungen auf die Intensivpflegestation der Neonatologie. Diese Analysen zeigen, dass bei afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Frauen sowie bei Frauen aus anderen europäischen Ländern deutlich häufiger ein Kaiserschnitt vorgenommen wird. Die Überweisung von Neugeborenen auf die Intensivpflegestation ist höher bei afrikanischen und asiatischen Frauen sowie bei Frauen aus den Balkanländern und der Türkei.
Höhere Müttersterblichkeit
Eine Analyse der Zivilstandsdaten aus den Jahren 2000 bis 2006 zeigt, dass das Sterberisiko für gebärende Migrantinnen deutlich höher ist als für Schweizerinnen. Die Müttersterblichkeitsrate (Maternal mortality ratio MMR) lag bei den Schweizerinnen in diesem Zeitraum bei 2,9. Das heisst, 2,9 von 100 000 Geburten endeten für die Mutter tödlich. Bei den ausländischen Frauen betrug die MMR im selben Zeitraum 12,7. Die MMR-Schere zwischen Schweizerinnen und Migrantinnen hat sich in den letzten vierzig Jahren stark geöffnet. Bei den Schweizerinnen ist die MMR von 19,2 (1969 bis 1979) kontinuierlich auf die besagten 2,9 (2000 bis 2006) gefallen. Bei den Migrantinnen ist die MMR von 15,0 (1969 bis 1979) auf 8,3 (1990 bis 1999) gesunken und anschliessend wieder auf 12,7 (2000 bis 2006) angestiegen.
In absoluten Zahlen ausgedrückt, sind in der Schweiz zwischen 1969 und 2006 total 204 Schweizerinnen und 75 Migrantinnen während oder kurz nach der Geburt gestorben. Verglichen mit Ländern in Afrika und Asien sind das sehr tiefe Zahlen; sie zeugen von einem generell guten Gesundheitszustand der Bevölkerung und einem guten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Industrieländern. Trotzdem: Eine tiefe Müttersterblichkeitsrate und ein guter Schwangerschaftsverlauf sind wichtige Errungenschaften, die es unbedingt zu erhalten gilt. Der Anstieg des MMR bei den Migrantinnen und der generell schlechtere Gesundheitszustand der Neugeborenen von Migrantinnen in der Schweiz ist ein Warnzeichen. Insbesondere deshalb, weil die Müttersterblichkeitsrate als wichtiger Indikator für die Qualität des gesamten Gesundheitssystems gilt. Es sollten also Massnahmen ergriffen werden, um die Gesundheitsrisiken für die Migrationsbevölkerung zu vermindern.
Wissenslücken schliessen
Die Autorinnen der Studie empfehlen, in erster Linie die Frage zu klären, weshalb der Gesundheitszustand der Mütter und Kinder aus ausländischen Gemeinschaften schlechter ist. Die Informationen über den Verlauf der Schwangerschaften der in der Schweiz lebenden Ausländerinnen (sowie der Schweizerinnen) beschränken sich heute auf die Zivilstandsstatistiken. Diese sind oft zu wenig informativ und erlaubten bis 2011 nicht, einen Bezug zu den sozioökonomischen Daten der Volkszählung herzustellen, da Angaben zum Geburtsdatum der Mutter fehlten. Grundsätzlich gibt es in der Schweiz keine systematische Untersuchung der Müttersterblichkeit, wie dies in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Sie würde ermöglichen, die Ursachen besser zu verstehen und die Prävention zu verbessern.
Bekannte Ursachen für den generell schlechteren Gesundheitszustand von Migrantinnen und Migranten sind Verständnis- und Verständigungsprobleme, unterprivilegierte Arbeits- und Lebensbedingungen oder gar illegaler Aufenthaltsstatus. Trotz Krankenversicherungsobligatorium kann es vorkommen, dass Migrantinnen unterversichert oder nicht versichert sind und Gesundheitsleistungen nicht in Anspruch zu nehmen wagen. Gemäss der Studie von 2010 haben zum Beispiel viele der 20 000 schwangeren Migrantinnen Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren oder ausgeschafft zu werden.
Bund ist aktiv
Gegen die Zugangsbarrieren zum Gesundheitswesen hat der Bund im Rahmen des Nationalen Programms Migration und Gesundheit bereits Massnahmen ergriffen. Das sind zum Beispiel die in 18 Sprachen erhältliche Broschüre «Gesundheitswegweiser Schweiz» und die Plattform für Gesundheitsratgeber www.migesplus.ch, die das Schweizer Gesundheitswesen erklären und auch spezifische Informationen zur Versorgung bei Schwangerschaft und Geburt enthalten. Zudem fördert der Bund das interkulturelle Übersetzen (persönlich anwesende Übersetzende sowie Nationaler Telefondolmetschdienst) und unterstützt im Rahmen des Projekts «Migrant Friendly Hospitals» die Spitäler bei der Konzeption und Umsetzung von migrantenfreundlichen Aktionsprogrammen.
Die Empfehlungen der Studie, gewisse Datenlücken zu schliessen, um die Gesundheit von Müttern und Neugeborenen besser beobachten und analysieren zu können, nimmt der Bund ernst. Die Zuständigen beim Bundesamt für Gesundheit und beim Bundesamt für Statistik prüfen zurzeit, wie die Datengrundlage verbessert werden kann, um die Gesundheit von Müttern und Neugeborenen in Zukunft besser zu analysieren und wirksame Präventionsmassnahmen zu entwickeln.
Die Studien
Ein integriertes Indikatorensystem zur Erfassung der Gesundheit von Müttern und Kindern mit Migrationshintergrund in der Schweiz (Paola Bollini, Sarah Fall, Philippe Wanner 2010)
Reproduktive Gesundheit von Migrantengruppen. Risikoungleichheit und Interventionsmöglichkeiten (Paola Bollini, Philippe Wanner et al. 2006)
Kontakt
Karin Gasser, Projektleiterin Forschung, Nationales Programm Migration und Gesundheit, karin.gasser-gp@bag.admin.ch