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Blick über die Grenzen des traditionellen Suchtkonzeptes

Ausgabe Nr. 82
Sep. 2010
Herausforderung Sucht

COROMA-Tagung. An der 8. «Journée COROMA» diskutierten Fachleute über die Grenzen der Suchtmedizin.

Das «Collège romand de médecine de l’addiction, COROMA» ist ein Netzwerk der medizinischen Akteure im Suchthilfebereich in der Westschweiz, das sich mit der Behandlung und Betreuung von Drogen- und Alkoholabhängigen befasst. Das COROMA hat sich zum Ziel  gesetzt, Menschen mit Suchtproblemen einen guten Zugang zu adäquater Behandlung zu erleichtern, die Hausärzte dabei zu unterstützen und die interdisziplinäre und kantonsübergreifende Zusammenarbeit mit den weiteren Suchtfachleuten zu fördern.   

Die COROMA-Jahrestagung vom 26. November 2009 in Montreux versuchte, die Grenzen des Suchtkonzepts aus­zuloten. Liebe bis zur Hörigkeit, Ab­hängigkeit von Handy oder Internet, die Bereitschaft, enorme Risiken in Kauf zu nehmen, oder dauernd selbstmord­gefährdet – die Frage scheint berechtigt, inwieweit solche Verhaltensmuster untereinander und mit den längst bekannten Süchten verwandt sind. Wann werden diese neu entstehenden Lebensgewohnheiten und neuen Ausdrucks­formen seelischer Leiden zu existenzbedrohenden neuen Krankheitsbildern?

Hochkarätige Referate
Zwei Fachreferate führten ins Thema ein. Prof. Michel Reynaud aus Paris sprach über die Sucht als «expandierende Wissenschaft». Er führte aus, dass der Mensch an und für sich dafür geschaffen sei, süchtig zu werden. Das belegen jetzt die letzten Forschungs­ergebnisse aus den Neurowissenschaften (siehe dazu die neu erschienene Broschüre «Neurowissenschaften und Sucht» auf www.romandieaddiction.ch oder www.ssam.ch). Ob in der Arbeit, der Forschung, der künstlerischen Kreativität, der Politik oder der Religion – das Engagement für eine Sache führe oft zu einer gewissen persönlichen Leidenschaft. Und zwischen Leidenschaft und Abhängigkeit besteht letztlich nur ein gradueller Unterschied. Suchtverhalten ist nicht an Substanzen gebunden, auch wenn diese die Abhängigkeit fördern und die negativen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft massiv beschleunigen und steigern können. Prof. Reynaud zeigte an Beispielen wie Sex-, Sport-, Arbeits-, Spiel- oder Internetsucht die verschiedenen Facetten substanzunabhängigen Suchtverhaltens auf. Er erläuterte, welche chemischen Prozesse im Gehirn bei verschiedenen Gemütszuständen ablaufen und dass es in jedem Fall der Kreislauf der Belohnung ist, der aktiviert wird. Ausgehend von der Frage, wie sehr man Sucht voraussehen und ihr entsprechend vorbeugen kann, hat er daran erinnert, dass sich in der Entwicklung einer Sucht immer die Wechselwirkungen zwischen drei Faktoren wiederfinden: zwischen dem Individuum (seiner Vulnerabilität oder seinem Widerstand), der Substanz(en) und dem sozialen Umfeld.

Der Freiburger Professor Marc-Henry Soulet befasste sich mit der Verletzlichkeit des Individuums angesichts der neuen Suchtformen und fragte aus dem Blickwinkel des Soziologen nach dem goldenen Mittelweg zwischen Banalisierung und Pathologisierung.

Abgerundet wurde der Tag von Jean-Daniel Barman, seit einem Vierteljahrhundert Direktor der «Ligue valaisanne contre les toxicomanies». Die langjährige Erfahrung ermöglichte es diesem Spezialisten aus dem Feld, die Entwicklung des Suchtkonzepts zu beschreiben. Barman hat auch die Frage aufgeworfen, ob der Stress und der zunehmende Druck der modernen Gesellschaft dazu führe, dass substanzunabhängiges Suchtverhalten immer mehr an Bedeutung gewinne.

Workshops zu vielfältigen Themen
Auch die Teilnehmenden wurden aktiv: In acht Workshops diskutierten sie über Themen wie Essstörungen, Spiel-, Kauf- oder Onlinesucht, Selbstmedikation, Sexsucht, Doping und Abhängigkeit im Sport sowie Arbeitssucht und Burn-out.

Kontakt

René Stamm, Sektion Drogen, rene.stamm@bag.admin.ch

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