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Unterwegs zu einer zukunftsfähigen Suchtpolitik

Ausgabe Nr. 82
Sep. 2010
Herausforderung Sucht

«Herausforderung Sucht». Eine Suchtpolitik, die sich auf Abhängigkeit im Bereich Tabak, Alkohol und illegale Drogen konzentriert, greift heute zu kurz – oder an den dringlichsten Problemen vorbei. Um aktuellen und künftigen Realitäten im Suchtbereich zu begegnen, braucht es ein breiter gefasstes Verständnis von Suchtpolitik im Sinne des Public-Health-Ansatzes. Der Bericht «Herausforderung Sucht» beschreibt die Grundlagen eines solchen Ansatzes.

Die gegenwärtige Suchtpolitik der Schweiz konzentriert sich vornehmlich auf die drei Bereiche Alkohol, Tabak und illegale Drogen. Jeder dieser Be­reiche wird von einer separaten Fachkommission betreut, die untereinander bisher wenig Berührungspunkte aufgewiesen haben (die Eidgenössischen Kommissionen für Alkoholfragen, Drogenfragen und Tabakprävention). Diese Kommissionen haben in den vergangenen Jahren unabhängig voneinander und in unterschiedlichem Ausmass angefangen, eine Strategie der öffentlichen Gesundheit («Public Health») oder Elemente einer solchen Strategie zu verfolgen. Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) haben sie nun einen Bericht zur «Herausforderung Sucht» und ein neues Leitbild für eine kohärente Suchtpolitik ausgearbeitet.

Inhaltliche Ausweitung der Suchtpolitik
Dieser Bericht fordert im Wesentlichen drei inhaltliche Erweiterungen und drei strategische Neuausrichtungen. Inhaltlich soll die Suchtpolitik der Schweiz nicht nur die Abhängigkeit im engeren Sinn berücksichtigen, sondern vor allem dem problembehafteten Konsum Rechnung tragen und die sich laufend ändernden Konsummuster mitberücksichtigen («mehr als Abhängigkeit»). Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass die meisten negativen Folgen des Umgangs mit Suchtmitteln nicht auf Abhängigkeit im medizinischen Sinne zurückzuführen sind, sondern auf den problematischen Konsum. Weiter soll künftig auf die nicht sehr hilfreiche Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Substanzen verzichtet werden («mehr als Legalstatus»). Denn für die Ausgestaltung einer effektiven Suchtpolitik im Sinne von Public Health ist nicht in erster Linie relevant, ob eine Substanz erlaubt ist oder nicht, sondern wie gross ihre Schadenslast ist. Tatsächlich verursachen die legalen Substanzen wie Tabak und Alkohol den weitaus grösseren gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schaden als illegale Drogen. Darüber hinaus gewinnen derzeit weitere legale potenzielle Suchtmittel wie Medikamente und Pharmazeutika zur psychischen und physischen Leistungssteigerung stark an Bedeutung. Schliesslich betonten die Autoren, dass eine umfassende Suchtpolitik nicht nur Substanzen, sondern auch Verhaltensweisen mit Suchtpotenzial wie das Glücksspiel miteinbeziehen muss («mehr als Substanzen»).

Strategie anpassen
Auch die strategische Neuausrichtung, die der Bericht skizziert, zeugt von einem breit gefassten Verständnis von Suchtpolitik. Diese soll künftig durch kohärente Verhaltens- und Verhältnismassnahmen dazu beitragen, die gesündere Wahl zur attraktiveren und günstigeren Option zu machen («mehr als Eigenverantwortung»). Dabei soll der Jugendschutz zwar weiterhin im Zentrum stehen, es soll aber auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Anteil alter Menschen immer mehr ansteigt und dass sich problembehafteter Konsum und Abhängigkeit keineswegs auf Jugendliche beschränken («mehr als Jugendschutz»). Eine erfolgreiche Suchtpolitik bedarf ausserdem nicht nur einer gemeinsamem Strategie aller Suchtpolitiken, sondern auch der Zusammenarbeit mit anderen Politik­bereichen auf allen föderalen Ebenen sowie mit der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft («mehr als gesundheitspolitische Massnahmen»).

Leitbild mit zehn Leitsätzen
Basierend auf diesem umfassenden Verständnis von Suchtpolitik, haben sich die Autoren auf ein bereichsübergreifendes Leitbild mit zehn Leitsätzen für eine zukunftsfähige Suchtpolitik geeinigt. Die Leitsätze orientieren sich am selben Ziel wie der Bericht: der Prävention von problembehaftetem Substanzkonsum und problembehafteten Verhaltensweisen sowie der Verminderung der Schadenslast. Das Leitbild stellt mögliche Ansätze vor, wie die bisherigen sektoriellen und substanzorientierten Massnahmen in eine suchtpolitische Gesamtperspektive integriert werden können.

Leitsatz 1: Kohärente Politik
Die Schweiz verfolgt auf der Grundlage eines Public-Health-Ansatzes eine kohärente Politik in Bezug auf schädlichen und riskanten Umgang mit psychoaktiven Substanzen und Verhaltensweisen mit Suchtpotenzial.

Leitsatz 2: Orientierung am Schadens­potenzial und der tatsächlichen Problemlast
Das suchtpolitische Handeln der Schweiz orientiert sich am Schadenspotenzial und der tatsächlichen Problemlast von Substanzen oder Verhaltensweisen mit Suchtpotenzial für das Individuum, sein soziales Umfeld und die Gesellschaft. Es verabschiedet sich damit von einer vereinfachenden Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Substanzen und der alleinigen Ausrichtung auf Abhängigkeiten.

Leitsatz 3: Inhaltliche Ausweitung
Das suchtpolitische Handeln der Schweiz umfasst neben Alkohol, Tabak und illegalen Drogen auch Medikamente, substanzungebundene Süchte sowie Produkte zur körperlichen und psychischen Optimierung. Dabei wird den spezifischen Merkmalen der einzelnen Suchtformen Rechnung getragen.

Leitsatz 4: Sicherstellung von Behandlung
Sucht ist eine Krankheit. Menschen mit einem problembehafteten Konsum, einem problembehafteten Verhalten oder einer Abhängigkeit haben ein Recht auf Behandlung und Betreuung. Auch den Angehörigen, Partnern und Kindern steht Unterstützung zu. Zugänglich sind auch Massnahmen der Früherkennung, Beratung, Unterstützung des Ausstiegs und der sozialen Wiedereingliederung. Der Auf- oder Ausbau eines integrierten Angebotes wird angestrebt.

Leitsatz 5: Schadensminderung
Wirksame Massnahmen der Schadensminderung beziehen sich auf Konsumierende und auf ihr Umfeld. Sie werden dort gewährleistet, wo sie aus Public-Health-Sicht eine Option darstellen. Im Bereich Tabak ist dies nach aktuellem Wissensstand nicht der Fall.

Leitsatz 6: Prävention durch umfeld­bezogene, strukturelle Massnahmen
Die Suchtpolitik der Schweiz setzt auf umfeldorientierte, strukturelle Massnahmen, die eine gesündere Wahl zur attraktiveren Option machen. Dazu werden verschiedene Politikbereiche konsequent in das suchtpolitische Handeln eingebunden.

Leitsatz 7: Verpflichtung von Herstellern, Vertreibern und Verkäufern
Hersteller, Vertreiber und Verkäufer von Produkten mit Schadens- und Suchtpotenzial werden durch einen abgestimmten Rechtsrahmen für die Steuerung von Angebot und Nachfrage stärker verpflichtet. Dies gilt für alle föderalen Ebenen in der Schweiz.

Leitsatz 8: Differenzierte Zielgruppenorientierung
Jugendschutz bleibt ein bedeutsamer Bereich der Suchtpolitik und bedarf der konsequenten Umsetzung. Suchtpolitische Massnahmen müssen aber breit auf alle Zielgruppen ausgerichtet sein. Dabei gilt es zu beachten, dass suchtpolitische Massnahmen niemanden aufgrund sozialer Ungleichheiten oder Verschiedenheit diskriminieren dürfen. Ergänzend sollen spezifische Programme die Gesundheitskompetenz jedes und jeder Einzelnen im Sinn von Prävention und Früherkennung fördern.

Leitsatz 9: Beitrag der Zivilgesellschaft
Die Handlungsträger der Zivilgesellschaft – beispielsweise Sport- und Wirtschaftsverbände oder Berufsorganisa­tionen – verstärken ihre Aktivitäten besonders in der Prävention und Schadensminderung.

Leitsatz 10: Forschung, Ausbildung und Monitoring/Evaluation
Die Schweiz verstärkt die Ausbildung von Fachkräften und die Suchtforschung. Dazu wird ein leistungsfähiges und integriertes Suchtmonitoring auf­gebaut, das den Ansatz des Leitbildes reflektiert. Der Bundesrat soll ein Na­tionales Forschungsprogramm Suchtforschung lancieren. Die Suchtforschung wird unter Einbezug von Medizin und Psychiatrie universitär stärker verankert.

Das Bundesamt für Gesundheit führt den Prozess «Herausforderung Sucht» weiter. Es verfolgt dabei das Ziel der Vermittlung, Vertiefung und Verankerung der Inhalte des Berichtes und des Leitbildes.

Der Originalbericht «Herausforderung Sucht – Grundlagen eines zukunftsfähigen Politikansatzes für die Suchtpolitik in der Schweiz» sowie eine Kurzfassung können als PDF heruntergeladen oder als Broschüre bestellt werden: www.herausforderungsucht.ch

Herausforderung Sucht – nächste Schritte

«Die Saat ist aufgegangen, und jetzt hoffen wir, dass der Baum dereinst reiche Früchte tragen wird.» Mit diesen Worten überreichte Pascal Strupler, Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG), am 1. Juni, anlässlich der Präsentation des Leitbildes für eine kohärente Suchtpolitik, den Autorinnen und Autoren zum Zeichen des Danks einen jungen Apfelbaum.
Diese Worte unterstreichen, dass die Übergabe des Leitbildes im Verständnis des BAG nicht nur den Abschluss eines Entwicklungsprozesses, sondern gleichzeitig den Beginn der nächsten Etappe auf dem Weg zu einer kohärenten Suchtpolitik darstellt.
Der Bericht skizziert inhaltliche sowie strategische Kernelemente einer zukunftsfähigen Suchtpolitik. Er empfiehlt dem BAG zudem, das Leitbild im Rahmen eines partizipativen Folgeprozesses zu einem suchtpolitischen Gesamtkonzept weiterzuentwickeln.
Die Arbeiten am Leitbild haben klar gezeigt, dass Sucht und die damit zusammenhängenden Probleme eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung darstellen. Somit erfordert die Entwicklung einer neuen Suchtpolitik letztlich einen gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess. Das BAG sieht seine Aufgabe darin, diesen Prozess anzustos­sen und im Rahmen seiner Möglichkeiten zu moderieren. Mit diesem Ziel plant das BAG die nächsten Schritte. Der Prozess erfordert den Einbezug von weiten Kreisen der Fachschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit.
In einem ersten Schritt wurden die zur Tagung vom 1. Juni Eingeladenen bereits um eine Stellungnahme und um Anregungen zum weiteren Vorgehen gebeten. Die bis Ende September eingehenden Stellungnahmen und Anregungen werden bis Ende November zu einem Bericht verarbeitet, der seinerseits als Grundlage für die Planung des eigentlichen Prozesses der Vermittlung, Vertiefung und Verankerung des Leitbildes dienen soll. Der entsprechende Massnahmen- und Vorgehensplan wird dem Departementschef, Bundesrat Didider Burkhalter, im nächsten Frühjahr zur Kenntnis gebracht.
Dabei handelt es sich um einen ergebnis­offenen Prozess, dessen Resultate dem Bundesrat Ende 2013 mit Empfehlungen zur Ausgestaltung der Suchtpolitik der lau­fenden Dekade unterbreitet werden soll.
Dieses Vorhaben ist ambitiös, angesichts der aktuellen politischen und finanziellen Rahmenbedingungen. Gelingen wird es nur, wenn der zündende Funken, den dieses Leitbild zweifelsohne darstellt, nicht nur auf den Fachbereich, sondern auch auf andere für die Entwicklung der Suchtpolitik wichtige Politikbereiche – z. B. die Wirtschaft und die Bildung – überspringt. Aufgrund erster spontaner Rückmeldungen dürfen wir zuversichtlich sein, dass das gelingen wird, aber klar ist auch, dass bis dahin noch ein langer, anstrengender Weg vor uns liegt, den wir nur gemeinsam bewältigen können. In diesem Sinne laden wir Sie herzlich ein, zum Gelingen dieses wichtigen Vorhabens beizutragen.

Markus Jann, Leiter Sektion Drogen

Der Public-Health-Ansatz in der Suchtpolitik

Der Public-Health-Ansatz ist gemäss Definition der WHO ein gesundheitspolitisches Konzept, «das durch Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und andere gesundheitsbezogene Interventionen auf Verbesserung von Gesundheit, Lebensverlängerung und Erhöhung der Lebensqualität von ganzen Bevölkerungen abzielt». In der Suchtpolitik gewinnt der Public-Health-Ansatz europaweit an Bedeutung. Dies nicht zuletzt, weil er eine gemeinsame Grundlage für bisher getrennte suchtpolitische Handlungsbereiche bieten kann und die Integration von Verhältnis- und Verhaltensprävention sowie die Integration von Gesundheit in allen Politikbereichen ermöglicht.
Ähnlich wie das multiple Ursachenmodell im Drogenbereich berücksichtigt der Public-Health-Ansatz in der Suchtpolitik die Wechselwirkungen zwischen dem Individuum, dem sozialen Umfeld und dem Suchtmittel oder dem Suchtverhalten. Er schliesst aber wegen der gesundheitlichen Auswirkungen und Folgelasten nicht nur die Abhängigkeit, sondern auch den problembehafteten Konsum in sein Handeln ein. Die Fachleute im Gesundheitswesen sind sich in Bezug auf eine solche kohärente Public-Health-Ausrichtung der Suchtpolitik bereits weitgehend einig und haben eine solche Ausrichtung auch in der Schweiz mehrfach eingefordert.

Kontakt

Markus Jann, Leiter Sektion Drogen, markus.jann@bag.admin.ch

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