«Die Neurowissenschaften bringen Hoffnung für betroffene Personen»
Sep. 2010Herausforderung Sucht
5 Fragen an Prof. Jacques Besson. Was können aktuelle Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften zur Suchtforschung, -behandlung und -politik beitragen? Der Medizinprofessor Jacques Besson, Leiter des Dienstes Sozialpsychiatrie des CHUV in Lausanne und Leiter des wissenschaftlichen Beirats der Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin, steht Red und Antwort.
Prof. Besson, was bringen die Neurowissenschaften an neuen Erkenntnissen zum Verständnis der Suchtphänomene gegenüber dem bereits Bekannten?
Jacques Besson: Die Neurowissenschaften integrieren das Phänomen Sucht ins bio-psychosoziale Modell und beschreiben die Wechselwirkungen zwischen dem Gehirn und den psychoaktiven Substanzen. Diese neuen Kenntnisse erlauben bessere, wissenschaftlich begründete Definitionen von Konzepten wie «Abhängigkeit» oder «Sucht». Sie betrachten das Phänomen Substanzkonsum als Anpassungsprozess des Gehirns. Die kongnitiven Neurowissenschaften zum Beispiel zeigen, wie psychoaktive Substanzen die Fähigkeit zur Erinnerung, Planung und Entscheidung beeinträchtigen. Ausserdem erklären die Neurowissenschaften der Sucht einen grossen Teil der individuellen Vulnerabilität bezüglich Genetik, Stressresistenz und Entstehung der Abhängigkeit, insbesondere während der Jugend.
Welche neuen Erkenntnisse sollten Politik und Verwaltung, die einen massgeblichen Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Arbeit von Fachleuten haben, unbedingt berücksichtigen?
Sucht ist nicht einfach ein Laster oder Ausdruck von mangelndem Willen. Ganz im Gegenteil stellt sie eine komplexe Krankheit im Grenzbereich zwischen dem psychosomatischen und dem psychosozialen Bereich dar. Sucht, ob mit oder ohne psychoaktive Substanz, ist, genauso wie andere Krankheiten, ein Gebiet der öffentlichen und psychischen Gesundheit, mit einer Komplexität, die umfassende, sozietale, koordinierte und interdisziplinäre Ansätze erfordert. Menschen, die neurobiologisch suchtgefährdet sind, bilden eine vulnerable Risikogruppe, die geschützt und im Rahmen der Gesundheitsgesetzgebung behandelt werden muss.
Was bringen diese neuen Erkenntnisse den betroffenen Personen, die unter einer Abhängigkeit leiden?
Die Neurowissenschaften bringen diesen Personen Hoffnung: ein besseres Verständnis der Mechanismen der Abhängigkeit, bessere Kenntnis der individuellen Risikofaktoren. Daraus ergibt sich eine Verringerung der Schuld-(Gefühle) und eine Entstigmatisierung, die den Zugang zur Behandlung erleichtert und die Therapierätention verstärkt. Die Neurowissenschaften ermöglichen es, vom moralischen Urteil zum klinischen und wissenschaftlichen Urteil dieser Situationen überzugehen.
Lassen sich aufgrund der neuen Erkenntnisse neue pharmakologische Perspektiven für die Therapie vorhersehen?
Gewiss: Die funktionellen Gehirnbilder zeigen uns die Kreisläufe, welche Sucht begünstigen und in denen pharmakologische Stoffe getestet werden. Diese Kreisläufe beeinflussen die verschiedenen Etappen des Abhängigkeitsprozesses: Sensibilisierung, Automatisierung, Speicherung. Die Genforschung dürfte auch die Verbesserung bestimmter identifizierter metabolischer Fehler ermöglichen. «Anti-craving»-Stoffe (gegen das dringende Konsumverlangen) könnten entwickelt werden, und weitere Richtungen, insbesondere neuro-hormonale, werden erforscht.
Welche Folgen erwarten Sie für die medizinische und psycho-soziale Behandlung von Sucht?
Die Entwicklung wird eine Stärkung der wissenschaftlichen (evidence-based) gegenüber den meinungsorientierten (opinion-based) Grundlagen mit sich bringen. Dies bedeutet einen grossen Fortschritt, der eine bessere Nutzung der zur Verfügung stehenden Mittel, bei der Suche nach einer Komplementarität zwischen allen Akteuren aus dem medizinischen und psychosozialen Bereich ermöglicht. Die neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse werden zur Schaffung eines koordinierten und interdisziplinären Behandlungsnetzes beitragen.
Die Broschüre «Neurowissenschaften und Sucht» wurde im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit vom Collège romand de médecine de l’addiction (COROMA) und der Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin (SSAM) herausgegeben. Sie existiert nur in elektronischer Form und ist online erhältlich unter http://www.ssam.ch/SSAM/de/node/275.