Sprunglinks

zurück

«Prävention muss ein unabdingbarer Teil der Gesundheitsversorgung sein»

Ausgabe Nr. 107
Dez. 2014
Nationale Strategien und Präventionsprogramme

Sechs Fragen an Ursula Koch. Die Co-Leiterin der Abteilung Nationale Präventionsprogramme im Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist jüngst von einem Weiterbildungsjahr in den USA zurückgekehrt. Wie sieht sie aus dieser internationa­len Perspektive die Schweizer Programme und Strategien zur Gesundheitsförderung und Prävention?

Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt mit einem der höchsten medizinischen Standards. Können wir es uns mit diesem Wohlstand nicht leisten, dass alle Menschen gesund sind und lange leben?

Tatsächlich haben wir mit 80 Jahren bei Männern und 84,5 Jahren bei Frauen die höchste Lebenserwartung neben Japan. Zudem schneiden wir im internationalen Vergleich immer wieder gut ab, was den Zugang zur Versorgung und die Gesundheitsindikatoren anbelangt. Auch unsere Suchtpolitik wird international immer wieder als Best-Practice-Beispiel erwähnt. Dennoch ist nicht alles rosig. Unsere Gesundheitskosten machen 11,4% des BIP aus. Damit stehen wir zusammen mit Holland weltweit an zweiter Stelle, hinter den USA. Es stellt sich die Frage, wie lange wir uns ein so teures Gesundheitswesen mit 26 unterschiedlichen kantonalen Gesundheitssystemen noch leisten können und wollen. Auch wissen wir sehr wenig über die Qualität und Effizienz unseres Versorgungssystems, da dazu transparente Daten fehlen.
Bei uns machen die nichtübertragbaren Erkrankungen 80% der Gesundheitskosten aus. Dies erfordert eine integrierte Versorgung, die auf Prävention und Behandlung chronisch Kranker zugeschnitten ist. Hier besteht viel Optimierungspotenzial, vor allem bei der Verknüpfung von Public Health und dem klassischen Versorgungssystem und der gezielten Förderung von innovativen Projekten (z.B. multiprofessionelle, integrierte Versorgungsmodelle). Es fehlen umfassende Ansätze wie das «Expanded Chronic Care Model» in den USA. Es bringt die verschiedenen Gesundheits- und Sozialdienste und weitere Ansprechstrukturen in Gemeinden zur Unterstützung eines aktiven Patienten zusammen.

Das BAG hat Anfang September eine Studie publiziert, welche die Kosten der nichtübertragbaren chronischen Krankheiten auf rund 52 Milliarden Franken schätzt. Wie hoch ist das Potenzial, um hier durch Prävention Kosten zu verhindern und menschliches Leid zu verringern?

Was mit Prävention verhindert werden kann, hat die Studie nicht erforscht. Sicher ist aber: Nichtübertragbare Krankheiten sind grösstenteils durch einen gesunden Lebensstil vermeidbar, aber einige Erkrankungen haben auch andere, zum Beispiel genetische Ursachen. Das heisst, mit Prävention und Früherkennung kann man viel bewirken, aber sie hat auch ihre Grenzen. Und man kann sie nicht wie ein Medikament verschreiben, sondern sie erfordern Eigeninitiative und Durchhaltevermögen.

Das BAG versucht mit seinen Programmen auch, die Menschen zu gesünderem Leben zu motivieren. Wie gut gelingt es, die Leute vom Rauchen, von übermässigem Trinken und Drogenkonsum wegzuführen und sie dann auch noch für mehr Bewegung zu motivieren?

Die Bemühungen fruchten. So hat beispielsweise der Anteil der körperlich aktiven Bevölkerung seit 2002 um 10% zugenommen. Damit erfüllen knapp drei Viertel der Bevölkerung die Empfehlungen für gesundheitswirksame Bewegung. Jedoch hat Prävention in der Öffentlichkeit heute einen schweren Stand. Die Darstellung der Prävention als genuss- und lustfeindlicher Ansatz wurde so konsequent betrieben, dass sich in Teilen der Bevölkerung eine Skepsis gegen jede Art der Prävention verbreitet hat. Dies, obwohl Gesundheit bei allen Befragungen eines der bedeutendsten Anliegen der Bevölkerung ist. Doch wir wissen alle, wie schwierig es ist und wie lange es dauert, ein Verhalten zu ändern. Umso wichtiger ist das Bewusstsein, dass ein gesunder Lebensstil Lebensqualität und Genuss bedeutet und wir ein Umfeld schaffen, das Verhaltensänderungen vereinfacht. So müsste Prävention auch ein unabdingbarer Teil der Gesundheitsversorgung sein und müssten Gesundheitsfachpersonen finanziert werden, um Risikogruppen in ihrer Verhaltensänderung zu unterstützen.

Suchtprävention setzte in der Vergangenheit direkt bei den einzelnen Substanzen an: Beginnend im 19. Jahrhundert mit der Alkoholprävention gegen die «Trunksucht», später kamen die Tabak- und die Drogenpräven­tion dazu. Nun erarbeitet das BAG eine neue Suchtstrategie, welche neue Konsumformen und Substanzen, aber auch die nicht an Substanzen gebundenen Abhängigkeiten wie Geldspiel- oder Internetsucht mit einbezieht. Gewinnt die Prävention an Effizienz, wenn nicht mehr nach Substanzen vorgegangen wird?

Allen Suchterkrankungen liegen ähnliche Mechanismen zugrunde und häufig liegen auch mehrere Suchtproblematiken gleichzeitig vor. Deshalb ist es nur logisch, diesen Weg zu gehen, was die Suchtberatung und -therapie schon seit Jahren tun. Grössere Kantone, die über genügend Ressourcen verfügen, entwickeln auch bereits solche umfassenden Ansätze. Nachholbedarf besteht hingegen bei kleineren Kantonen, die stärker auf Unterstützung angewiesen sind. Eine Suchtpolitik muss fähig sein, sich Veränderungen anzupassen und weiterzuentwickeln. Dazu ist ein umfassender Orientierungsrahmen Sucht unabdingbar. Ziel dieser Strategie ist es, eine gemeinsame Stossrichtung für die weitere Entwicklung der Suchtpolitik, des Suchthilfesystems und der Prävention von Suchterkrankungen zu entwickeln. Gemeinsam mit den Partnern soll ein integriertes Suchthilfeangebot sichergestellt werden, welches Massnahmen der medizinischen Versorgung, der Schadensminderung, der Beratung und der Therapie umfasst und die soziale Reintegration und die gesundheitliche Rehabilitation abhängiger Menschen fördert. Allerdings sollen weiterhin substanzspezifische Massnahmen ergriffen werden können, insbesondere bei der gesetzlichen Regulierung.

Eine suchtfreie Gesellschaft ist eine Utopie. Die Suche nach dem Rausch gehört offenbar zum Wesen des Menschen. Wo und wie soll sich der Staat in Zukunft hier einmischen und wo darf er die mündigen Bürgerinnen und Bürger gewähren lassen?

Rausch und Sucht sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Unser Auftrag ist der Schutz der Gesundheit. Dabei geht es uns auch um die Schaffung eines gesellschaftliche Bewusstseins für den Umgang mit Sucht und deren Folgen. Es geht auch um die Fragen, wo der Genuss aufhört und die Sucht beginnt, und wo die eigene Freiheit aufhört, weil beispielsweise andere geschädigt werden. Der Rausch wirkt kurzfristig, bei einer Abhängigkeit hält das Leid für die Individuen und deren Umfeld hingegen lange an. Wir haben den Auftrag, Rahmenbedingungen zu schaffen, die alle Menschen dazu befähigen, Gesundheitskompetenz zu entwickeln, und den abhängigen Menschen oder den Menschen mit erhöhtem Risiko Beratung und Therapie anzubieten.

Welche Anregungen für Prävention und Gesundheitsförderung haben Sie von Ihrem Weiterbildungsjahr in den USA mitgenommen?

Zunächst habe ich realisiert, dass wir in vielen Bereichen auf dem richtigen Weg sind. Zum Beispiel sind wir, was die Gestaltung einer gesundheitsfördernden Umwelt anbelangt, im Vergleich zu den USA weit fortgeschritten. Dazu gehören der Zugang zur Natur, der öffentliche Verkehr, Fahrrad- und Fusswege und sozioökonomische Faktoren wie die soziale Wohlfahrt oder der Zugang zur Bildung. In anderen Bereichen sind uns die USA aber voraus. Vor allem die systematische Förderung und Evaluation von innovativen Pilotprojekten mit anschliessender gezielter Unterstützung bei der Verbreitung und Implementierung von Best-Practice-Beispielen hat mich beeindruckt. Es werden dafür auch «Innovationsgelder» bereit gestellt und verschiedene Finanzierungsmodelle geprüft. Weiter ist die Prävention stärker in die Primärversorgung integriert. Das Center for Disease Control and Prevention fördert mit diversen Massnahmen die Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Public-Health-Verantwortlichen zur Bekämpfung chronischer Erkrankungen. Des Weiteren übernehmen Gesundheitsfachpersonen zunehmend neue Rollen, z.B. als «Connectors» oder Gesundheitscoachs, um erkrankte Menschen mit entsprechenden Ressourcen in ihren Gemeinden zu verknüpfen oder bei der Lebensstilveränderung zu unterstützen. Letztlich wird in den USA zunehmend Wert auf betriebliche Gesundheitsförderung gelegt, weil die Arbeitgeber für die Versicherung ihrer Arbeitnehmer aufkommen müssen. Sie haben erkannt, dass sie massiv Kosten sparen, wenn sie in die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden investieren, da dadurch Produktivitätsverluste und Abwesenheiten vermieden werden. Einige dieser Themen werden nun bei uns im Rahmen der Agenda Gesundheit2020 auch angegangen.

Kontakt

Ursula Koch, Co-Leiterin der Abteilung Nationale Präventionsprogramme, ursula.koch@bag.admin.ch

Nach oben